von Katrin Zürcher, 18.09.2012
Als wäre Carl Roesch kurz ins Städtchen gegangen

Draussen fliesst ruhig und grün der Rhein, drinnen fällt weiches Septemberlicht durch die grossen Fenster. Halb aufgebrauchte Farbtuben, Pinsel, ein Bild auf der Staffelei – alles scheint, als komme Carl Roesch gleich zurück. Und doch ist er vor fast 33 Jahren gestorben. Nun soll sein Atelier in Diessenhofen neu belebt werden.
Katrin Zürcher
Auf der Staffelei steht das grossformatige Ölbild einer jungen Frau im hellblauen Kleid, die mit einem Weidenkorb in der rechten Hand über herbstlich-bunte Felder schreitet. Das Bild scheint darauf zu warten, dass der Meister in sein Atelier zurückkehrt, um letzte Pinselstriche anzubringen. Tatsächlich hat Carl Roesch hier bis etwa drei Wochen vor seinem Tod im Jahr 1979 gearbeitet, wie sein Neffe Urs Roesch an diesem sonnigen Septembernachmittag in Diessenhofen erzählt. Schon als Bub verbrachte er viel Zeit im offenen Haus seines Onkels und seiner Tante und erlebte manches Fest mit. Später fertigte er Rahmen für Carl Roeschs Werke an, half ihm bei Transporten, besuchte ihn zusammen mit seiner Frau für abendliche Gespräche im Atelier. „Wie ich war er eher ein Nachtmensch“, sagt der heute 87-Jährige.
Eine Hauptrolle für den roten Stuhl
Vor dem aus Sichtbackstein gemauerten Kamin steht ein gemütlicher rotgeblümter Polstersessel. „Hier sass er oft und schmauchte seine Pfeife“, sagt der Neffe, „ich rieche noch seinen Tabak.“ Der „rote Stuhl“ taucht bei Carl Roesch öfter auf. So schreibt der Künstler 1966 in sein Tagebuch: „Ein kleines Bild begonnen. Doch spielt mein roter Stuhl die Hauptrolle. Ausruhen.“ Damals war er bereits 82 Jahre alt, und das Zeichnen, das weniger körperliche Kraft erfordert als das Malen, wurde wichtiger für ihn. „Viele seiner Kugelschreiber-Bilder entstanden in diesem Stuhl“, erinnert sich Urs Roesch. Versonnen tritt er zum Kamin und nimmt ein Glas vom Sims. Es ist ein einfaches Rotweinglas, gefüllt mit roter Erde. „Mein Onkel betonte immer, dass er dieses Glas nie wegwerfen würde. Die Erde darin hat er selbst aufgesammelt – in Cézannes Garten am Mont Saint Victoire in Südfrankreich.“
Im Nebenzimmer hängt ein Bild des Künstlers, auf dem der rote Stuhl zu sehen ist. Darin sitzt, in Grau und Schwarz gekleidet, seine Ehefrau Margrit. Sie ist damit beschäftigt, ein türkisfarbenes Stück Stoff zu besticken. Schöne Stoffe spielten eine wichtige Rolle im Leben der 1969 verstorbenen Margrit Roesch-Tanner. Sie sammelte Stoffe, webte selber welche, zeichnete viel und half ihrem Mann bei praktischen Arbeiten wie dem Anbringen von Mosaiken. „Sie war am Werk meines Onkels wesentlich beteiligt“, sagt Urs Roesch. Sie sei ihm in vielem eine Lehrmeisterin gewesen, sei besser ausgebildet gewesen als der Fast-Autodidakt Carl Roesch. „Sie hätte ihren Carl gern in der progressiveren Gruppe der abstrakten Maler gesehen, aber obwohl es manchmal nur ein winziger Schritt dahin gewesen wäre, verliess mein Onkel das Gegenständliche nie ganz. Er entgegnete Margrit jeweils, er müsse malen, wie es für ihn richtig sei, und nicht wie es einer Modeströmung entspreche.“
Die Stiftung will das Atelier neu beleben
Als Carl Roesch 1979 starb, setzte er seinen einzigen Neffen als Alleinerben ein. „Das war eine grosse Überraschung für mich, eine Ehre und eine Verpflichtung zugleich.“ Der Nachlass umfasste über 2500 Zeichnungen, Aquarelle und Ölbilder sowie zahlreiche Tagebücher und Fotos. Der Künstler wünschte in seinem Testament, dass sein Atelier im Urzustand erhalten bleibe. Bis heute wirkt es, als wäre Carl Roesch nur kurz für eine Besorgung ins Städtchen gegangen. Urs Roesch kümmerte sich zusammen mit seiner Frau um den Nachlass und das Atelier. 2001 gründeten sie die „Carl und Margrit Roesch-Stiftung“, um den Werken eine dauernde Heimat zu geben. Stiftungspräsidentin ist Urs Roeschs Tochter Salome Roesch, die sich zusammen mit ihren beiden Brüdern für das bedeutende Erbe ihres Grossonkels einsetzt. Der Nachlass liegt gesichert im Thurgauer Kunstmuseum.
Über hundert seiner Werke schenkte Carl Roesch der Stadt Diessenhofen. Die „Fondation Roesch“ bildet das Kernstück des Ortsmuseums, das in unmittelbarer Nähe des Ateliers liegt. Mehr als die Hälfte dieser Bilder werden darin dauerhaft gezeigt. Diessenhofen mit seinen fünf Künstlerateliers, dem Ortsmuseum und dem Atelier habe das Zeug zum lokalen Kunstzentrum, findet Urs Roesch. Er bezieht das Ortsmuseum fast immer in seine Atelier-Führungen mit ein. Seit einem Jahr arbeitet die Stiftung mit der Konstanzer Kunsthistorikerin Helga Sandl zusammen. Sie plant zusätzlich zu den bereits stattfindenden Lesungen Aktivitäten wie Filmvorführungen oder Künstlergespräche im Atelier. „Wichtig ist mir, dass Carl Roesch durch Vorträge und Ausstellungen auch in andere Städte getragen wird“, sagt sie. So plant sie für nächstes Jahr eine Ausstellung im Museum Rosenegg in Kreuzlingen.
Weisse Kiesel aus dem Rhein
Eine letzte Anekdote erzählt der Neffe in der Mosaik-Werkstatt, in der noch immer die Maschine steht, mit der Carl Roesch Steine für seine beliebten Mosaike zurechtschnitt. Er verwendete Rheinkiesel, die in vielen Farben wie Grau, Rot und Grün natürlich vorkommen. Der Neffe bot seine Hilfe an und tauchte im Rhein, der unterhalb des Ateliergartens vorbeizieht, nach besonders schönen Steinen. „Am seltensten waren die luzid weissen – für sie musste ich ziemlich tief tauchen“, erinnert er sich. „Mein Onkel schien sich jeweils sehr über die Steinchen zu freuen und gab mir eine grosszügige Belohnung dafür.“ Das spornte den Neffen zu weiteren Tauchgängen an. Urs Roesch lacht: „Es dauerte Jahre, bis ich merkte, dass er nie auch nur ein einziges weisses Steinchen in seinen Mosaiken verwendet hatte.“

 
        