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von Andrin Uetz, 21.11.2019

«Das war ein Sprung ins kalte Wasser.»

«Das war ein Sprung ins kalte Wasser.»
Marion Regenscheit bei der Eröffnung der BuchBasel 2019. | © Ben Koechlin

Die BuchBasel ist auch für eine Thurgauerin etwas ganz Besonderes: Die Literaturvermittlerin Marion Regenscheit ist seit 2018 Organisationschefin des Festivals. Im Interview verrät sie ihre ganz persönliche Bilanz.

Sichtlich noch etwas erschöpft vom stressigen Wochenende, den intensiven Wochen der Planung und Koordination der BuchBasel, dem grössten Deutschschweizer Literaturfestival, öffnet Marion Regenscheit die Tür zu ihrer gemütlichen Zweizimmerwohnung nahe dem Wettsteinplatz in Kleinbasel. 

Sie kocht gerade einen Tee, auf dem Balkon gibt es eine Zigarette, vom dritten Stock aus blickt man in die Baumwipfel eines typischen Basler Hinterhofs sowie zur Baustelle für den zweiten Roche Tower; urban und doch urgemütlich. Auf dem Perserteppich im Wohnzimmer lässt die aus dem Thurgau stammende Marion Regenscheit zufrieden die letzten Tage und Wochen Revue passieren. 

Frau Regenscheit, wie kamen Sie dazu, die BuchBasel zu leiten? 

Marion Regenscheit: Nach dem Eklat an der Preisverleihung des Schweizer Buchpreises an der BuchBasel 2017 hat Katrin Eckert, Intendantin des Literaturhaus Basel, dringend eine Nachfolge für die Festivalleitung gesucht. Sie hat mich gefragt, und ich hab ja gesagt. [lacht] Das war schon recht stressig, da ich erst im März 2018 dazukam, und gleich mit an die Buchmesse Leipzig ging. Das war ein Sprung ins kalte Wasser. 

Was gehört alles dazu, ein so grosses Literaturfestival zu leiten? 

Das Jahr sieht in etwa so aus: Die BuchBasel ist jeweils im November. Danach müssen Schlussberichte verfasst werden, Abrechnungen, Auswertung, und dann geht es bereits daran, Gesuche fürs nächste Jahr zu verfassen. Das ist aber alles noch eher entspannt. Entscheidend ist dann im März der Besuch der Buchmesse in Leipzig. Dort stellen die Verlage ihr Herbstprogramm vor, und wir [Katrin Eckert und Marion Regenscheit] wählen Manuskripte aus, die für unser Programm in Frage kommen. Das ist extrem spannend, oft verändern sich die Bücher ja mit dem Lektorat noch sehr. Leider kann ich mir nicht leisten, mehr als eine Stunde pro Buch aufzuwenden, um mich für oder gegen ein Werk zu entscheiden. Es sind einfach zu viele. 

 „Die jungen AutorInnen sind mutiger geworden, ihre Literatur beschreibt nicht mehr nur die eigene Verlorenheit und Perspektivlosigkeit, sondern sie beziehen deutliche Positionen.“ 

Marion Regenscheit über junge Literatur (Bild: Twitter-Profil)

Wie geht es danach weiter?

Dann geht es Schlag auf Schlag. Die Medienkampagne muss aufgegleist werden, Pressearbeit, Programmtexte, Plakate, Grafik, alles muss delegiert und in Auftrag gegeben werden. Im September wird die Shortlist für den Schweizer Buchpreis bekannt gegeben, und da die Preisverleihung Teil der BuchBasel ist, und alle fünf Nominierten beim Festival lesen, wird kurz darauf auch das Programm der BuchBasel in den Druck gegeben.  Von da an steht das Eventmanagement im Vordergrund. 30 Spielorte, Verträge, Honorarvereinbarungen, Verpflegung, Flyer und Plakate verteilen lassen und so weiter. Da kommt extrem viel zusammen. Für diese Zeit habe ich glücklicherweise eine Assistentin. 

Und dann ist plötzlich November und das Festival steht vor der Tür.

Genau. Dann geht es vor allem um die Koordination von Menschen. Das Horrorszenario wäre ja, das Publikum wartet und der Autor oder die Autorin ist nicht auf der Bühne… 

Was gefällt Ihnen an dieser Arbeit am besten? 

Die Arbeit ist sehr vielschichtig. Das geht vom eintauchen in einzelne Bücher und Texte, den persönlichen Kontakten bis zur grossen Übersicht, von Mikro bis Makro. Ich kenne das gesamte Programm, weiss wer wo wie wen betreut, wer für was verantwortlich ist. Während dem Festival selbst jedoch kann ich dann wieder in einzelne Veranstaltungen reinschauen, habe viele gute Begegnungen. Es geht um Kommunikation, um Menschen und Bücher. Der Austausch ist für mich das Wichtigste. 

Worauf könnten Sie gern verzichten? 

Es ist zu viel. Das Festival ist für unser Budget und Personal eigentlich zu gross. Da kommen manche Arbeiten zu kurz, weil zu wenig Zeit dafür vorhanden ist. Es bräuchte mehr Angestellte, mehr Stellenprozente fürs Festival. 

„Das Festival ist für unser Budget und Personal eigentlich zu gross.“

Marion Regenscheit, Festivalorganisation BuchBasel

Wie lautet Ihr Fazit der diesjährigen Ausgabe? 

Organisatorisch hat alles geklappt, ich bin sehr zufrieden, alle Tasks sind erfüllt. Am Sonntagabend beim Helferessen zu merken, dass dies eine Gruppe ist, welche unter sich eine gute Stimmung hat, und zusammen etwas geschaffen hat, ist sehr bereichernd. Wenn es zwischen uns [Helfenden und Organisatorinnen] stimmt, stimmt es auch für die Besucher und Besucherinnen der BuchBasel. Ich habe mich noch nicht getraut, in die Presse zu schauen, aber habe ein gutes Feedback von Autoren und Autorinnen bekommen. 

Was waren Ihre Highlights in dieser Festivalausgabe? 

Carolin Emcke! Eigentlich hätte Olga Tokarczuk die Eröffnungsrede für die BuchBasel halten sollen. Als diese aber rückwirkend im Oktober 2019 den Nobelpreis für Literatur des Jahres 2018 verliehen bekam, musste sie aus Zeitgründen ihren Auftritt auf das Jahr 2020 verschieben. Carolin Emcke war bereits für eine Lesung am Festival gebucht, und ist kurzfristig für die Eröffnungsrede eingesprungen. Sowohl ihre Lesung wie auch die Eröffnungsrede waren herausragend. Sie bringt gewisse Sachen klar auf den Punkt, intelligent und gut verständlich.  Für mich persönlich auch sehr erfreulich war eine Zusammenarbeit mit dem Studiengang für Visuelle Kommunikation der Hochschule für Gestaltung an der FHNW. In der Licht Feld Gallery ist daraus eine Symbiose von Lyrik und Bildern entstanden. Oder der Club der ungeschriebenen Bücher, der war auch sehr gut! 

Shot Stories, Marathonlesung, Blasphemic Reading Soirées - im Programm der BuchBasel finden sich sehr eigensinnige Formate. Was steckt dahinter? 

Innovative Formate ergänzen schon länger die eher traditionellen Lesungen an der BuchBasel. Da habe ich genauso wie meine Vorgängerinnen das Bedürfnis, neue Sachen auszuprobieren. Es geht darum, Gattungen zu mischen, nicht nur auf der Bühne zu lesen, sondern andere Räume zu erschliessen. Im Idealfall stehen sich dann die verschiedenen Künste gleichgestellt gegenüber, verbinden sich. Es gibt während der BuchBasel auch viele Gratis-Veranstaltungen, zum Beispiel die Lesungen für Kinder, die Veranstaltungen im KLARA, oder die Schaufensterlesungen im Manor. Es geht darum, auch ein Laufpublikum zu erreichen, um Niederschwelligkeit. Es ist ja auch eine Aufgabe der BuchBasel Literatur zu vermitteln, neue Leute für Literatur zu begeistern. Mit etwas unkonventionelleren Formaten erreicht man ein anderes, nicht zuletzt auch jüngeres Publikum. 

„Carolin Emckes Eröffnungsrede war herausragend.“ Marion Regenscheit über ihren Höhepunkt der diesjährigen BuchBasel. Das Bild zeigt Emcke bei einer Lesung in Konstanz. Bild: Oliver Hanser
In diesem Jahr sind mit Carolin Emcke, Herta Müller und Liao Yiwu unter anderem politische und aktivistische Autoren und Autorinnen präsent. Ist das eine kuratorische Zuwendung zum Politischen oder Zufall? 

Einerseits werden derzeit einfach viele politische Bücher geschrieben, da reagieren wir einfach auf das Angebot des Büchermarkts. Doch wir gehen schon einen Schritt weiter und greifen mit Podien politische Themen auf, versuchen die politischen Gehalte von Literatur auch in den Fokus zu setzen. Gerade unter jüngeren Autoren und Autorinnen ist ein aktivistischer Geist zu spüren. Etwa beim feministischen Kollektiv Rauf, welches mit Interventionen vor Ort war, oder bei Giulia Becker und Angela Lehner. Die Jungen sind mutiger geworden, ihre Literatur beschreibt nicht mehr nur die eigene Verlorenheit und Perspektivlosigkeit, sondern sie beziehen deutliche Positionen. 

Zum Abschluss ein Statement zur Verleihung des Schweizer Buchpreises? 

Ich bin sehr glücklich über die Wahl von Sibylle Berg. Ihr Buch [GRM. Brainfuck] geht einfach einen Schritt weiter. Sie ist eine sehr gute Autorin, schreibt super, und dazu ist soviel Recherche und Visionäres in dem Buch. Es ist seiner Zeit voraus und doch oder gerade darum umso aktueller. 

„Das Horrorszenario wäre, das Publikum wartet und der Autor oder die Autorin ist nicht auf der Bühne.“

Marion Regenscheit, über Sorgen während der Vorbereitung eines Festivals

 

Mehr über Marion Regenscheit

Marion Regenscheit (31) ist in Alterswilen im Thurgau aufgewachsen und hat die PMS am Seminar Kreuzlingen besucht. Sie studierte an der Universität Basel Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Medienwissenschaften. Mit einem Erasmus-Austauschprogramm konnte sie ein Jahr an die Humboldt Universität nach Berlin. Sie war Praktikantin und Presseangestellte beim Schwabe Verlag in Basel, sowie studentische Hilfsassistentin im Literaturhaus Basel. Nach dem Masterabschluss fand sie eine Stelle als wissenschaftliche Bibliothekarin an der Universitätsbibliothek Basel, wo sie berufsbegleitend einen Master of Advanced Studies (MAS) in Bibliotheks- und Informantionswissenschaften absolvierte. Seit Frühjahr 2018 ist sie für die Festivalorganisation des Literaturfestival BuchBasel verantwortlich. 

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