von Barbara Camenzind, 06.12.2021
Der grosse Weltgesang

Die Konzertreihe «klangreich» in der Alten Kirche Romanshorn ist eines der lebendigen Biotope für unschubladisierbare Musik. Das bewies das Konzert der türkisch-kasachischen Sängerin Saadet Türköz und dem österreichischen Posaunist Bertl Mütter einmal mehr. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
Vorab: Diese Musik kann nicht wirklich beschrieben werden. Jeder Satz ist nur eine Annäherung, alle Vergleiche Klischees, die bemüht werden müssen. Mit einem Gedicht über das Meer, das am schönsten ist, wenn man es noch nicht sieht, eröffnete Saadet Türköz den Abend. Die Worte des grossen türkischen Dichters Nazim Hikmet waren klug gewählt. Denn der Posaunist Bertl Mütter und die Sängerin entführten einem schon in den ersten Klangreihen in unerforschte Sphären.
Seufzend, gurgelnd, lockend, krächzend, schreiend, rufend. Betörend. Die kleine romanische Kirche Romanshorn wurde plötzlich unendlich weit. Wie der Himmel über der Steppe. Voller Liebe, Sehnsucht und Tiefe.
Was Improvisieren wirklich bedeutet
Man täte beiden Künstlern unrecht, sie in die zentralasiatische Weltmusikecke zu stopfen, oder als weiteres Update des berühmten Jazzmusikers und Blechbläsers Michel Godard wahrzunehmen. Türköz und Mütter haben Castel del Monte weit hinter sich gelassen. Selbst mit wenig Ahnung von dieser Spielart der Muse war zu spüren: Die wissen genau, was sie tun und wie sie's tun.
Ihre musikalischen Wurzeln verliehen Flügel zu ganz Eigenem. Bertl Mütters gesungen-gespielte Repliken schmiegten sich wie geschmeidige Katzen um Saadat Türköz Tongirlanden. Improvisieren heisst, mit den Ohren zu fühlen.
Reinhören: So klang der Abend mit Saadet Türköz und Bertl Mütter
Heimspiel für die Sängerin
Als Saadat Türköz in den Achtziger Jahren in die Schweiz einwanderte, lebte und arbeitete sie in Romanshorn. Es war deutlich zu spüren, wie sehr sie sich über das Heimspiel freute. Überhaupt schaffte es die Künstlerin sehr authentisch und charmant, Fäden zu ihren Zuhörenden zu spannen. Das war weder anbiedernd noch irgendwie komisch. Wir waren Teil des Geschehens, mitten in ihrer Musik. Wie gut täte so etwas wieder bei so genannt klassischen Konzerten. Zum Beispiel bei Liederabenden. Schubert musizierte schliesslich auch inmitten seiner Freunde.
Darum noch ein paar Takte zur Stimme: Türköz’ Gesangsweise, dieser Kehlgesang, der Oberton-und Untertonspektren aufblühen lässt, sowie die rhythmische Pulse im Körper wirken magisch. Und lässt einem alles, was man jemals in Sachen Belcanto gelernt hat, vergessen. Das ist sehr gut, weil diese Aussage eben doch nicht stimmt. Grosse Stimmen entspringen immer der Körpermitte. Grosser Gesang ist immer Weltgesang.
Hinweis: Das in der Klangreich-Reihe geplante Konzert supersonus-resonances vom 19. Dezember 2021 wird nach Angaben des Veranstalters leider aufgrund der aktuellen Lage abgesagt. Für das Konzert wird ein Ersatztermin gesucht.

Weitere Beiträge von Barbara Camenzind
- New York ist überall (22.01.2025)
- Zauberhafte Stabmusik (08.01.2025)
- Noëlles Klanggeschenk (18.12.2024)
- Lametta mit Pfiff (16.12.2024)
- Heisse Musiktipps für kalte Tage (03.12.2024)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Musik
Kommt vor in diesen Interessen
- Kritik
- Klassik
- Jazz
- Weltmusik
Kulturplatz-Einträge
Ähnliche Beiträge
Konstante Veränderungen
Am 27. März spielt das transatlantische Quartett emitime im Rahmen der Release-Tour zu ihrem neuen Album «morfosis» im Kult-X in Kreuzlingen. Für den Schlagzeuger Samir Böhringer ein Heimspiel. mehr
Drei Orchester, zwei Konzerte, ein Klang
Gemeinsam stärker: Der Musikverein Tägerwilen, das Orchester Divertimento und das Campus Orchestra haben sich für besondere Konzerte am 29. und 30. März zusammen getan. mehr
Klingt so die Zukunftsmusik?
Reicht es heute noch aus, einfach klassische Konzerte zu spielen? Die Konstanzer Bodensee Philharmonie findet: eher nein. Und bindet das Publikum auf aussergewöhnliche Weise ein. mehr