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von Andrin Uetz, 03.03.2021

In Gedanken um die Welt

In Gedanken um die Welt
Ruth Erat als Beobachterin ihrer Umgebung. | © Ladina Bischof

Künstlerin, Autorin, Politikerin: Ruth Erat verbindet viele Talente in sich. Wie macht sie das nur? Ein Spaziergang in Arbon auf der Suche nach Antworten. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

In der Ostschweiz muss man Ruth Erat wahrscheinlich nicht mehr gross vorstellen. Sie engagiert sich als Autorin, Malerin und Kuratorin in diversen Projekten, hat nach ihrer Doktorarbeit über Mechthilde von Magdeburg an der Uni Zürich (1985) lange als Lehrerin in der Berufs- und Erwachsenenbildung gewirkt.

Sie ist derzeit im Vorstand des Literaturhaus Wyborada, des Caracol Verlags und des Vereins Haus Max Burkhardt. Zudem war sie für die SP im St. Galler Kantonsrat und ist seit 2015 im Arboner Stadtparlament.

„Wer irgendwie Zeit und Kraft hat, sollte politisch aktiv werden. Die Politik hat ohnehin einen schweren Stand in unserem Land gegenüber der Wirtschaft. Auch im kleinen, auf lokalerer Ebene, kann man sehr viel erreichen”, findet Erat.

Frische Luft für die Gedanken

An einem Samstag Vormittag im Februar 2021 spazieren wir der Hafenanlage von Arbon entlang in Richtung Egnach. Ein leichter Nebel liegt über dem blauen Bodenseewasser, die Sonne drückt gerade genug durch, um viele Leute herauszulocken an die Promenade.

Das Gespräch braucht nur wenige Fragen, denn Ruth Erat hat viel zu erzählen. Beim Gehen scheinen sich ihre Gedanken wie von selbst zu formieren, gar in einen Dialog zu treten mit der Landschaft; den Spuren der Industrialisierung beim Saurerareal, der Freizeit- und Tourismus-Ökonomie der Strandbäder, der Yachtclubs und Rudervereine.

Ruth Erat in ihrer Schreibstube. Bild: Pablo Erat

Unterwegs in die Entschleunigung

Wie sich dabei herausstellt, lässt sich Ruth Erat als Künstlerin und Schriftstellerin gerne von ihrer Umgebung inspirieren. Ihre Welt beschränkt sich nicht auf Bibliotheken und die Schreibstube, vielmehr scheint sie sich den Stoff für ihr Werk auf Reisen und bei Wanderschaften anzueignen.

Oft fahre sie auch einfach mit dem Zug nach Genf und zurück um etwas zu korrigieren oder mache einen Ausflug nach München, Leipzig oder Berlin. In der Hauptstadt der Deutschen Flaneure (und heute auch Flaneusen!) teilte sie sich bis vor kurzem mit anderen Kulturschaffenden eine Wohnung in Friedrichshain.

So ein Tapetenwechsel sei gut zum Arbeiten, und der Puls der Stadt, die Impulse, Theater, Kino, Literaturhaus, Oper, Ausstellungen, Gespräche – sowas brauche es einfach von Zeit zu Zeit.

Der feine Blick für das Besondere

Bei aller Leidenschaft für das städtische Leben hat Erat einen ebenso differenzierten Blick auf die Schweiz. Da ist einerseits eine unerschöpfliche Neugierde für die verschiedenen Landschaften, Dörfer und Kleinstädte. Etwa verbringe sie viel Zeit in Brugg im Aargau bei ihren Grosskindern. Die Flüsse und Wälder seien dort ganz anders als hier.

Von Rheineck zog es sie oft in den Bregenzerwald, ins Gaissauer Riet. Derzeit erkundet sie die Region um Weinfelden, den Seerücken, was ihr durch einen Atelieraufenthalt in der Remise erleichtert wird.

Video: Ruth Erat trifft Orchester

Die Schweiz als Projektionsfläche

Wer nun an die romantische Verklärung der Natur denkt, könnte sich irren. Erat sieht nicht einfach nur das Idyllische und Schöne, viel spannender seien die Diskrepanzen zwischen der Vorstellung und den realen Gegebenheiten.

Hölderlin etwa sei ernüchtert gewesen, als er im Thurgau die soziale Ungleichheit der Vorindustrialisierung beobachtet hätte. Das Tübinger Ideal der Schweiz mit der demokratischen Landsgemeinde fand er nicht ganz so vor, wie er sich das gewünscht hätte.

Solche Mythen seien unheimlich interessant, findet Erat, was daraus alles entstehen könne, etwa der Tourismus: „Denken sie an die Geschichte vom Heidi: Der Clara aus Frankfurt muss nur der Rollstuhl den Berg runter getschuttet werden, schon ist sie geheilt durch diese magische Bergluft.”

Das Alltägliche wird politisch

„Eine weitere Projektionsfläche wäre da noch die Frau”, leitet Erat das Gespräch auf ein weiteres ihrer Kernthemen. „Ich glaube, der [literarische (Anmerkung des Autors)] Feminismus ist jetzt endlich an einem Punkt angekommen, wo es um Wirklichkeiten geht. Einerseits geht um es Alltägliches, schreiende Kinder, Geschirrwäschen. Andererseits geht es um mögliche Chancengleichheit für alle Geschlechter und Hautfarben.”

An diesem Punkt scheint sich ein Kreis zu schliessen. Das literarische, das künstlerische und das politische Engagement sind plötzlich nicht mehr drei Sparten oder Betätigungsfelder, sondern fester Bestandteil einer Person.

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