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von Inka Grabowsky, 09.12.2021

Die singende Tanne

Die singende Tanne
Kann aus einer einfachen Tanne ein tiefgründiges Kunstwerk werden? Der «Summer Tree Dream» des Künstlerduos Christina Hemauer und Roman Keller beantwortet das auf seine Weise. | © Cornelia Mechler

#Lieblingsstücke, Teil 20: Der „Summer Tree Dream" in der Kartause Ittingen verblüfft nicht nur zur Sommerzeit, sondern auch im Winter, wenn es schneit. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)

2008 pflanzte das Künstlerduo Christina Hemauer und Roman Keller vor dem Eingang der Kartause Ittingen eine Rottanne und brachte einen winzigen Lautsprecher mit Bewegungsmelder an. Immer, wenn jemand auf dem Weg vom Parkplatz zum Eingangstor daran vorbei geht, hört man ein leises Stimmchen singen: „I am dreaming of a white christmas…“ 

Ich passierte die Installation zum ersten Mal im Hochsommer und war irritiert. Das Bäumchen wäre mir gar nicht aufgefallen, aber das Weihnachtslied an diesem Ort, zu dieser Zeit fungierte als akustischer Stolperstein. Man kann gar nicht anders als darüber nachzudenken, warum der Baum von weissen Weihnachten träumt. Vorfreude auf eine entscheidende Rolle beim Fest und allgemeine Bewunderung vielleicht?

Ist das vielleicht ganz leiser Klimaprotest?

Doch dann kommt man automatisch auf den Klimawandel und die veränderten Umweltbedingungen, die Rottannen (picea abies oder „gemeine Fichte“ genannt) das Leben in unseren Breiten schwer machen. Ausgerechnet unser traditioneller Weihnachtsbaum leidet besonders stark unter der zunehmenden Trockenheit und wächst deshalb langsamer. Weisstannen kommen besser damit klar – die Konsumenten müssen wohl ihre Vorlieben ändern.

Wir müssen fair bleiben: Eigentlich hatten Rottannen im Flachland schon früher nicht viel verloren. Die im feuchten, kühlen Bergland heimischen Bäume wurden – oft in Monokultur - angepflanzt, weil sie schnell wuchsen. Sie lieferten vergleichsweise fix Rohstoff für die Papierindustrie oder Bauholz. „Brotbaum der Forstwirtschaft“ war der Ehrentitel, der Fichten deshalb verliehen wurde.

Dass mehr Stürme den Flachwurzler umhauen oder mehr Borkenkäfer von Baum zu Baum schwirren, ist eine Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte.

Lied mit eigener Geschichte

„White Christmas“ ist nicht nur durch seinen Text der ideale Soundtrack für den Gedanken an sich verändernde Lebensbedingungen und für die Sehnsucht nach einer vergangenen heilen Welt. Das Lied des jüdischen US-Immigranten Irving Berlin, 1940 geschrieben, ist auch für sich allein mehr als nur Zuckerguss für die Ohren.

I'm dreaming of a white Christmas
Just like the ones I used to know
Where the treetops glisten and kiddies listen
To hear sleigh bells in the snow

I'm dreaming of a white Christmas
With every Christmas card I write
May your days be merry and bright
And may all your Christmases be white

 

„Weisse Weihnachten“ stehen für Familienfeiern im alten Europa, nicht für Partys unter Palmen in der neuen Welt. Und für die amerikanische Öffentlichkeit, die den Song zum Bestseller machte, stand der Begriff für ein Fest, bei dem die Söhne nicht beim Kriegseinsatz in einem tropischen Land grosser Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt waren.

Es wurde Weihnachten 1941 rund zwei Wochen nach dem Angriff auf Pearl Harbour lanciert, als sich viele Männer für den Kriegseinsatz melden mussten. 1975 war das Lied das Signal für die Evakuierung aus Saigon zum Ende des Vietnamkriegs. Es wurde als Code im April im Radio gespielt und sollte den amerikanischen Zivilisten durch die unpassende Jahreszeit auffallen.

Die aktuelle Tanne ist bereits der dritte „Summer Tree Dream“

Bei einem erneuten Besuch in der Kartause diesen Herbst musste ich feststellen, dass mein Freund, der Baum, nicht mehr da war. Er war offenkundig durch einen Artgenossen ersetzt worden. Doch es besteht kein Grund zur Sorge. Der Baum war nicht etwa erkrankt und abgestorben – ganz im Gegenteil.

Er prosperierte zu sehr: „Der Baum sollte nicht zu gross sein, meinte das Künstlerduo, und deshalb wechseln wir ihn von Zeit zu Zeit aus. Es ist schon der dritte Baum, der dort aktuell steht“, sagt Markus Landert, der Direktor der Kunstmuseums Thurgau. „Die andern wurden dann jeweils als Christbäume in der Klosterkirche verwertet.“

Wenn eine Fichte vom Kunstwerk zum Weihnachtsbaum wird, ist sie dann befördert oder degradiert? Das dürfte im Auge des Betrachters liegen.

 

Die Serie #Lieblingsstücke und wie Du mitmachen kannst

In unserer Serie #Lieblingsstücke schreiben Thurgaukultur-KorrespondentInnen über besondere Kunstwerke im Kanton. Das ist der Start für ein grosses Archiv der beliebtesten Kulturschätze im Thurgau. Denn: Wir wollen auch wissen, welches ist Dein Lieblings-Kunststück aus der Region?

 

Skulpturen, Gemälde, historische oder technische Exponate, Installationen, Romane, Filme, Theaterstücke, Musik, Fotografie - diese #Lieblingsstücke können ganz verschiedene Formen annehmen. Einige der vorgestellten Werke stehen im öffentlichen Raum, manche sind in Museen zu finden, andere wiederum sind vielleicht nur digital erlebbar. Die Serie soll bewusst offen sein und möglichst viel Vielfalt zulassen.

 

Schickt uns eure Texte (maximal 3000 Zeichen), Fotos, Audiodateien oder auch Videos von euch mit euren Lieblingswerken und erzählt uns, was dieses Werk für euch zum #Lieblingsstück macht. Kleinere Dateien gerne per Mail an redaktion@thurgaukultur.ch , bei grösseren Dateien empfehlen wir Transport via WeTransfer.

 

Oder ihr schreibt einen Kommentar am Ende dieses Textes oder zum entsprechenden Post auf unserer Facebook-Seite. Ganz wie ihr mögt: Unsere Kanäle sind offen für euch!

 

Mehr #Lieblingsstücke im Dossier: Alle Beiträge sammeln wir und veröffentlichen wir sukzessive im Rahmen der Serie. Bereits erschienene Teile der Serie sind gebündelt im Themendossier #lieblingsstücke zu finden.

 

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