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von Inka Grabowsky, 11.01.2019

Auf die Freundschaft

Auf die Freundschaft
Batch (Hans Gysi) erklärt, wieso "Nobody Home" von Pink Floyd eigentlich von ihm ist. | © Inka Grabowsky

Hans Gysi zeigt in seinem neuen One-Man-Stück „Milchruusch“, welch hohen Wert eine Freundschaft haben kann. Die Premiere im kleinen Theaterbureau in Märstetten war ein voller Erfolg.

Wir befinden uns im Hier und Jetzt. Das Publikum ist zu Gast bei Jean Baptiste Kümmel, genannt „Batch“, der sich mit den Zuschauern die Zeit vertreibt, bis endlich sein bester Freund aus Kindertagen, der weitgereiste Gian, zum jährlichen Treffen kommt. Batch ist Lehrer in der Schweiz, verheiratet, zwei Kinder: Ein fast ganz normaler Kerl, hätte er nicht auch Gedichte veröffentlicht. Er kann vom Schreiben leben, sagt er einmal. Gian jedoch scheint aus anderem Holz geschnitzt. Schon als Kind, als die beiden Jungs unzertrennlich sind, ist er derjenige, der auf Ideen kommt und Erfolge einheimst. Beim Schlittschuhlaufen seien sie ein gutes Team gewesen, so Batch. „Ich habe die Mädchen zusammengetrieben, und von ihm haben sie sich fangen lassen.“ Das Muster zieht sich durch das ganze Leben der beiden. Trotzdem sind sie zusammengeschweisst, und zwar vom titelgebenden Milchruusch. Nur knapp sind sie in ihrer Jugend an einem Total-Absturz vorbeigeschrammt. Sie schworen sich damals, sich immer daran zu erinnern und deshalb alljährlich gemeinsam den Milchruusch-Tag zu begehen.

Video: Einblick in Hans Gysis „Milchruusch“ 

Wandlungsfähiger Darsteller

Langweilig wird es wirklich nie im Stück. Unter der Regie von Paul Steinmann erzählt Hans Gysi, rezitiert Lyrik, legt Platten auf und singt mit Pathos und Verve den Milchruusch-Blues (Musik von Daniel R. Schneider). Berührend ist es zu sehen, wie der alternde Mann noch immer im Takt wippt, wenn er die Songs aus seiner Jugend hört oder wie er mitbetet, wenn französische Lyrik des Dichter-Liebespaars Paul Verlaine und Arthur Rimboud aus den Lautsprechern knistert. Allerdings fällt es den Zuschauern im Laufe des Abends immer schwerer, die Begeisterung von Batch für seinen besten Freund Gian zu teilen. Er stiftet den braven Batch zu Unfug an, und der macht mit, weil er eben einen besten Freund haben will, mit dem man Pferde stehlen kann. Zwar realisiert er, dass er regelmässig ausgenutzt und übervorteilt wird, mag sich aber nicht wehren. Eine Hymne auf die Männerfreundschaft, wie sie am Anfang und Ende des Stückes zu hören ist, ist „Milchruusch“ deshalb nicht. „Ein guter Freund ist einer, der seine neue Eisenbahn zuerst dir zeigt“,  heisst es da, zitiert aus dem Tagebuch des kleinen Jungen, der unser Erzähler einmal war. Als Pensionär resümiert er: „Mein Freund Gian hat mich immer beflügelt. Er hat seine Träume wahrgemacht, ich war in Gedanken dabei.“  

Schweizer Version von Forrest Gump

„Milchruusch“ ist nicht das erste Werk, das historische Ereignisse mit persönlichem Erleben der Figuren verknüpft. Es erinnert an den Bestseller „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“, weil Texte des Erzählers offenkundig unfreiwillig unzählige Meisterwerke der Popkultur der siebziger und achtziger Jahre beeinflusst haben. Batch erinnert auch an den Filmhelden Forrest Gump, wenn wir anhand seiner Jugenderinnerungen zu den 68ern, zur Drogen-Szene in Zürich oder zum Fall der Berliner Mauer geführt werden. Und das Stück erinnert an Spoerls „Feuerzangenbowle“, wenn Jugend und Freundschaft melancholisch verklärt und überhöht werden. Originell ist es trotzdem. Je näher das Publikum am Alter des Protagonisten ist, desto mehr Freude hat es an den Reminiszenzen, aber auch jüngere Jahrgänge kommen auf ihre Kosten. Man ahnt jeweils, welche harmlose Peinlichkeit unserem ich-Erzähler als Nächstes widerfahren wird. Wie der „Milchruusch“ endet, ahnt man allerdings nicht. Auch deshalb macht das Zuschauen Spass.

Die weiteren Spieldaten:

11./12. Januar Theaterbureau Märstetten
27. Februar/ 2. März Keller 62, Zürich
15./16. März Theaterhaus Thurgau, Weinfelden
Mehr im Internet unter www.milchruusch.ch 

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