von Maria Schorpp, 12.08.2019
Geschichte rockt!

Die Gemeinde Steinach feiert ihren 1250. Geburtstag mit einem Musical, das mit der Geschichte spielt und ihr so auf besondere Weise gerecht wird – ein grosses Vergnügen auf der Seebühne im Steinacher Hafen.
Man kann es so sehen: Da ist dieser wunderschöne Ort, das grünbewachsene Gredhaus zur Linken, Geschichte aus Stein. Da ist das Hafenareal mit der nicht weniger monumentalen Trauerweide, in dem die Bühne Platz findet, die Bühnenbauer Stefan Kreier ganz im vorindustriellen Material Holz gestaltet hat. Und dann das: Auf der gegenüberliegenden Arboner Seite, direkt in Blickrichtung der Seebühne, ragen Kräne hoch in den Himmel. Mittelalter-Idylle sieht anders aus.
Man kann es aber auch als glücklichen Umstand nehmen. Das Heute wird mitgedacht. Steinach, „Das Dorf am See“, wie es sich nicht ohne Selbstbewusstsein bezeichnet, feiert seinen 1250. Geburtstag. Es hat dafür eine Art Singspiel mit professionellen Theatermachern und Steinacher Laiendarstellern in Auftrag gegeben. Es erzählt vom Vorabend des Sturms auf die St. Galler Klosteranlage Mariaberg, der nun auch schon wieder über 500 Jahre zurückliegt. Was aber eben nicht heisst, dass das Ganze ehrfürchtig im Gestern erstarrt. Da feiert sich ein Dorf am See selbst und kann sich dabei über sich selbst ein bisschen lustig machen. Das ist als feierliche Grundhaltung so ungewöhnlich wie grossartig.
Ein Sommernachts-Sturm
Paul Steinmann, wohlwissend, dass heute Geschichte am besten über Geschichten zu vermitteln ist, stellt spiegelbildlich eine Feier ins Zentrum seines Stücks mit dem beziehungsreichen Titel „WasserLand“. Die Steinacher wollen ihren neuen Gredmeister Matthis zünftig begrüssen. Tatsächlich landet ein kolossales Ego am Steinacher Hafen an. Michael Finger ist überwältigend. Sein Matthis ist als populistischer Ich-Darsteller und erbarmungsloser Einpeitscher gleichermassen überzeugend. Und er kann ganz toll singen, was Folgen haben wird. Die mitreissend eingängige Musik dazu kommt von nebenan, wo eine Band unter der musikalischen Leitung von Valentin Baumgartner mit eigenen Kompositionen die Bühne rockt.
Michael Finger als Gredmeister Matthis. Copyright Bild: Wasserland-2019.ch
Musik gibt es nicht einfach so dazu, weil sie gute Laune macht, sondern ist trickreich in den Stoff des ideenreich konstruierten Stückes eingebunden. Dessen Untertitel „Ein Sommernachts-Sturm“ erinnert obendrein nicht zufällig an Shakespeares schwülen Sommernachtstraum mit all seinen geisterhaften Liebesverwirrungen. Der Liebeswahn ist auch hier treibende Kraft. Matthis, darüber ganz sanft geworden, verguckt sich in Ottilia, die jedoch lieber ins Kloster will. Ganz anders ihr Pendant vom Seegrund: Littoia, die Wassernixe, die einen Ersatz für den Tenor ihres Wassergeister-Chors sucht und dabei Matthis und seiner schönen Stimme mit Haut und Haar verfällt. „Liebi! Verreckti Liebi!“, ihr Liebessong trifft punktgenau mitten ins Herz. Jacqueline Vetterli sieht dabei in ihrer grünen Gummihaut mit Algenbesatz (Kostüme von Joachim Steiner, Maske von Sandra Wartenberg) nicht wirklich wie die kleine Meerjungfrau aus, deren Schicksal sie teilt. Eher wie ein kleines, nettes Seeungeheuer.
„Liebi! Verreckti Liebi!“
singt Littoia, die Wasserixe in WasserLand
Jacqueline Vetterli als Littoia inmitten ihres Wassergeister-Chors. Copyright Bild: Wasserland-2019.ch
Auch Gemeindepräsident Roland Brändli spielt mit
Regisseur Oliver Kühn setzt auf Tempo und Action und einen Klabautermann als Conférencier. Wer alles glaubt, wird selig. Der Waffenhändler Ullrich von Ennetsee, der noch ein paar Kanönchen im Schiffsbauch mitgebracht hat, ist bei Raphaël Tschudi ein aalglatter Warlord mit Tendenzen zum Grössenwahn. Er und Matthis bilden ein spannungsgeladenes Paar. Bei all dem Witz behält die Inszenierung ihre Figuren fest im Auge. Darauf kommt es bei aller Spielfreude am Ende an. Und letztere ist immens. Autor und Regisseur lassen nicht nur Steinacher Bevölkerung mitspielen, darunter Gemeindepräsident Roland Brändli, der beim vorausgehenden Empfang sich für seine darstellungsbedingt längeren Haare und deutlichen Bartstoppeln entschuldigte. Die Dramaturgie gibt auch immer wieder Anlass, um ein bisschen Revue zu platzieren. So darf der STV Steinach akrobatisch beim Schiffentladen mithelfen. Oder die Laiendarsteller formieren sich zum (von Ann Katrin Cooper und Tobias Spori) professionell choreografierten Musical-Ensemble.
Geschichte wird nahbar
Bei all dem könnte die Historie zur Alibifunktion für den ganzen Spass werden. Ist aber nicht so. Nur ist eben kein konventionelles Historienspiel daraus geworden. Stattdessen wird Geschichte nahbar. So das Gredhaus, der seinerzeit bedeutende Warenumschlagplatz, und der heilige Gallus, der legendäre Gründer der Stadt St. Gallen, durch die Figuren der Juliana von Katharina Bohny und des Unheilige Gallus von Matthias Peter. Ob es historisch ist, dass die Steinacher zum Jagen getragen werden mussten? Auf der Bühne jedenfalls verspüren sie offensichtlich wenig Lust, die Klosteranlage der Abtei St. Gallen zu stürmen. Lieber feiern.
Als ob sie es geahnt hätten, gehören sie am Ende der Geschichte auch nicht zu denen, die vom Ausgang profitierten. Im Gegenteil, wie die selbstironische Nummer mit dem Steinacher Nachwuchs zu verstehen gibt. Wer weiss, ob Steinach heute noch ein Dorf wäre, wäre es anders gekommen. Glücklich, wer mit solch lachendem Auge auf seine Geschichte blicken kann und dabei noch grosse Freude bereitet.
Deprimierender Geschichtsunterricht. Der Steinacher Nachwuchs entkommt ins Badi. Copyright Bild: Wasserland-2019.ch
Video zur Premiere
Copyright WasserLand, Lia Studerus
Weitere Vorstellungen bis zum 7. September. Karten unter: https://wasserland-2019.ch/ticketinfo/ oder info@wasserland-2019.ch.

Von Maria Schorpp
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