Seite vorlesen

von arttv, 10.10.2022

Hinter Mauern

Hinter Mauern
Pflegeanstalt Perreux, Neuchâtel, „Office de Photographie Neuchâtel Attinger, Hospice cantonal Perreux, galérie de cure“, Patientinnen in der Luftkur, undatiert, Glasdia Psychiatrie-Museum Bern PM K03-043 |

Wie sah es aus, hinter den Mauern der Psychiatrien vor über hundert Jahren? Eine Foto-Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau gibt Einblicke. (Lesedauer: ca. 1 Minute)

Die Bilder dienten ursprünglich der Lehre, der Diagnose oder auch einer Form von Eigenwerbung. Heute geben sie einen seltenen Einblick in die Alltagsrealitäten von Menschen in Psychiatrien. Das Ausstellungs- und Buchprojekt «Hinter Mauern – Fotografie in psychiatrischen Einrichtungen von 1880 bis 1935» zeigt historische Fotografien aus zehn psychiatrischen Einrichtungen der Schweiz. Ein Ausstellungsprojekt von der Kunsthistorikerin Prof. Dr. Katrin Luchsinger und dem Kunstmuseum Thurgau.

Jetzt den gesamten Videobeitrag ansehen

Gestohlene Bilder

Schon Mitte des 19. Jahrhunderts eigneten sich Psychiater:innen das neue Bildmedium der Fotografie an, denn es versprach, naturgetreu abzubilden, was sich vor dem Objektiv befand. Daher haben sich in vielen Kliniken Bestände von Glasdiapositiven, Fotoabzügen und Fotoalben erhalten, die bisher noch nie untersucht wurden. Die Diapositive wurden bei Lichtbildvorträgen vor Kollegen oder dem Pflegepersonal eingesetzt, manche Bilder in der Fachliteratur veröffentlicht.

Aber was sollte anhand der Porträts der Betroffenen erkennbar werden? Über die Vermutung, eine «Geisteskrankheit» zeige sich an äusseren Merkmalen, wurde an der Schwelle zum 20. Jahrhundert viel diskutiert. Heute wird vielmehr die Aufnahmesituation erkenntlich und die Rolle, wie die Fotografie damals in der Diagnostik eingesetzt wurde. Es waren «gestohlene» Bilder, erschlichen ohne das Einverständnis der Fotografierten.

Seltene Abwechslungen

Andere Aufnahmen liessen die Kliniken von professionellen Studios aufnehmen. Sie sollten der Öffentlichkeit ein Vertrauen erweckendes Bild vom Leben in einer Anstalt vermitteln, das ja weitestgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. Auf diesen Bildern sind saubere, helle Innenräume, gepflegte Parkanlagen und arbeitende Patient:innen zu sehen.

Eine dritte Gruppe zeigt die bescheidenen Abwechslungen wie Tanzanlässe, Jahrmärkte, Zirkus oder Theateraufführungen, die das monotone Leben in der Anstalt auflockerten. Mit Feuereifer organisierte beispielsweise Hermann Rorschach in Münsterlingen und Herisau solche Anlässe. Die Psychiaterin Marie von Ries-Imchanitzky, eine Assistenzärztin in der Waldau bei Bern, fotografiert selbstbewusst sich und ihre Abteilung und auch künstlerische Aktivitäten der Patienten wie den zeichnenden Adolf Wölfli.

 

Heil- und Pflegeanstalt Münsterlingen, Thurgau, „Münsterlingen 1911? 1912? “, Befüllen von Güterloren am Bodensee, Fotograf Hermann Rorschach, um 1911, Staatsarchiv Thurgau, 9’10, 1.7.0.0/0, Album

Mechanismen des Ein­ und Ausschliessens

Die Bildkonvolute zeigen eine Verhandlung über die Grenzen der Normalität. Es ist wichtig, sie zu erhalten und zu zeigen, denn sie stellen einen Fundus an Wissen dar: über die Psychiatrie jener Zeit, darüber, wie sich die Wissenschaft des neuen visuellen Mediums bediente – und wie prekär dieses Wissen war und heute noch ist. Die Bestände visualisieren Mechanismen des Ein-­ und Ausschliessens. Die Ausstellung gibt Gelegenheit, sich mit diesen Mechanismen auseinanderzusetzen.

 

Die Ausstellung

Hinter Mauern | Fotografie in psychiatrischen Einrichtungen von 1880 bis 1935 | Kunstmuseum Thurgau | 2. Oktober 2022 bis 16. April 2023

www.kunstmuseum.tg.ch

 

 

Kommentare werden geladen...

Von arttv

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Kunst

Kommt vor in diesen Interessen

  • ART-TV
  • Fotografie

Werbung

Hinter den Kulissen von thurgaukultur.ch

Redaktionsleiter Michael Lünstroth spricht im Startist-Podcast von Stephan Militz über seine Arbeit bei thurgaukultur.ch und die Lage der Kultur im Thurgau. Jetzt reinhören!

Austauschtreffen igKultur Ost

Für eine starke Kulturstimme im Kanton Thurgau! Dienstag, 11. Juni 2024, 18.00 Uhr, Kult-X Kreuzlingen.

Literaturpreis «Das zweite Buch» 2024

Die Marianne und Curt Dienemann Stiftung Luzern schreibt zum siebten Mal den Dienemann-Literaturpreis für deutschsprachige Autorinnen und Autoren in der Schweiz aus. Eingabefrist: 30. April 2024

Atelierstipendium Belgrad 2025/2026

Bewerbungsdauer: 1.-30. April 2024 über die digitale Gesuchsplattform der Kulturstiftung Thurgau.

Kulturplatz-Einträge

Kulturorte

Kunstmuseum Thurgau

8532 Warth

Ähnliche Beiträge

Kunst

Ueli Alder erhält Konstanzer Kunstpreis

Der Appenzeller Künstler erhält den mit 8000 Euro dotierten Konstanzer Kunstpreis. Mit der Auszeichnung ist auch eine Einzelausstellung verbunden. mehr

Kunst

Die Grenzensprengerin

Noch bis 23. Februar stellt Jana Kohler, die Preisträgerin des 20. Adolf Dietrich-Förderpreises, im Kunstraum Kreuzlingen aus. arttv.ch wirft einen Blick in die Ausstellung. mehr

Kunst

So kommst du ans „Heimspiel“

Das Ausstellungsformat „Heimspiel“ gastiert im Dezember erstmals auch im Thurgau. Noch bis 17. März können sich Künstler:innen um eine Teilnahme bewerben.   mehr