von Rolf Müller, 04.12.2014
In situ: Nähe, Distanz

Was schafft Nähe, was Distanz? Inspiriert von Kafka-Texten, zeigen 16 Absolvierende des Studiengangs Medien & Kunst der ZHdK ab Freitag im Kunstraum Kreuzlingen thematisch weit gefächerte Arbeiten.
Rolf Müller
Die Arbeiten für die Vernissage am Freitag sind praktischer Natur: Wie teilen sich 15 Projekte einen Raum, wie werden sie präsentiert, wo positioniert? Teil des Bachelor-Studiums an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) sind auch konkrete Aspekte wie die Realisierung einer Ausstellung. In Kreuzlingen läuft es gut, und das ist nötig: die Zeit drängt.
Realisierung benötigt Energie
„Der Übergang von der Theorie zur Praxis ist immer eine spezielle Phase“, weiss Nils Röller, der die Ausstellung mit Ulrich Görlich begleitet. Die beiden ZHdK-Professoren schätzen die Vielfalt der entstandenen Arbeiten, die ihren Anfang in der Auseinandersetzung der Studierenden mit Kafka und seinen Themen wie Nähe, Distanz und Fremdheit hatten.
Die Konzeption und Umsetzung der meisten Arbeiten dauerte rund ein Jahr. Jetzt sind sie im Finish. Das konkrete Setting der Ausstellung vor Ort habe erheblichen Diskussionsbedarf gezeigt und auch Energie gebraucht, sagt Röller. Andererseits sei die Arbeit mit jungen Künstlerinnen und Künstlern immer sehr bereichernd, der Prozess berge viele positive Überraschungen.

Nora Longatti. (Bilder: Rolf Müller)
Nora Longatti; „Flower Power“, Bouquets, 2014
„Sag es durch die Blume“, heisst ein Sprichwort. Es meint: Sag jemanden die Wahrheit etwas verschönert, angedeutet, abgemildert. Tatsächlich gab es bereits vor dem 18. Jahrhundert eine „Blumensprache“, eine Art Code, mit dem sich jedes Blumenarrangement in eine nonverbale Botschaft für den Empfänger verwandelte. Nora Longatti hat fünf Bouquets, die an Treffen von internationalen Spitzenpolitikern die Szenerie verschönerten, auf ihre wahre Bedeutung untersucht und ist zu erstaunlichen Ergebnissen gelangt.
Mit Hilfe einer Floristin hat sie fünf Blumenkompositionen von Treffen unter anderem von Chinas Präsident Hu Jintao, Doris Leuthard, Merkel, Poroschenko, Putin Netanyahu und Hillary Clinton originalgetreu rekonstruiert. Die Bouquets stellt sie zusammen mit Agenturbildern der Treffen aus, wobei sie die Bildunterschriften ihrer Übersetzung der Blumensprache und damit den wahren Botschaften gegenüberstellt. (rom
Gemeinsamer Nenner der 15 Arbeiten entlang dem Spannungsbogen von Nähe und Distanz ist der Transit, diese Befindlichkeit zwischen den Polen. „Im Transport schafft Kunst Verbindungen, die nicht offensichtlich sind. Sie ruht inkognito in Kisten (…). Weshalb also nicht gleich den Transport selbst als Kunst organisieren und verstehen?“, heisst es mehrdeutig im Begleittext zur Ausstellung. Das dazugehörige Plakat ziert denn auch ein Frachtbrief.
Die Weiten zwischen der einen und der anderen Seite werden in den Projekten sehr unterschiedlich und entsprechend den Sparten des Departements Kunst & Kultur der ZHdK dargestellt: Bildende Kunst, Fotografie, mediale Kunst und Theorie.

Vanessa Germann und Johnny Nia.
Vanessa Germann, Johnny Nia; „Krise“, ca. 17 Min., 2014
Ein geskripteter Streifzug einer depressiven Person durch das Internet erzählt die Geschichte einer menschlichen Krise. Der Wortlaut basiert auf Interviews mit Betroffenen, die zu einer Geschichte montiert wurden. Das Öffentlichmachen einer intimen Google-Recherche versucht einen psychischen Zustand zu enttabuisieren, der häufig als Schwäche ausgelegt und erlebt wird. Gezeigt wird die Produktion vor dem Kunstraum in einem umfunktionierten Container. „Wer sich mit dem Thema Depression befasst, soll merken: Da gibt es ja noch ganz viele andere Betroffene“, sagt die im Thurgau aufgewachsene Vanessa Germann.(rom)
So zeigt etwa die Arbeit „Buoys“ von Brigham Baker und Anina Yoko Gantenbein sechs Bojen in jener Position, in der sie nach der Aussetzung im pazifischen Ozean an den Strand gespült wurden. Gleichzeitig sind per Livecam drei weitere, im Bodensee installierte Bojen zu sehen.
Oder Nadine Geissbühlers Soundinstallation „Der Bärner bi ig“. Die Berner Künstlerin nimmt sich das Wörterbuch ihres Kantons vor und stellt fest, dass sie nicht mit alle Wörtern des Dialekts vertraut ist – Entfremdung durch die Zeit. Indem sie die Worte spricht, kommt das Melodiöse der Sprache zum Vorschein, was sich mit der Zeit auf ein unverständliches Lied reduziert.

Nico Sebastian Meyer.
Nico Sebastian Meyer; Objektkomposition_ZRH, KRZ_2014
Für seine Objektkomposition verwendet Nico Sebastian Meyer hier gekaufte „Souvenirs“ aus Asien. Er platziert sie auf dem ursprünglichen Verpackungsmaterial - einer Zeitung, die in chinesischer Sprache auch Inhalte beispielsweise über Menschenrechtsverletzungen in der Volksrepublik druckt, die in China selbst der Zensur zum Opfer fallen. Zur Verfremdung der Figuren kommt Silikon zum Einsatz. „Die Wirkung sehe ich in einer Art düsterer Sciene-Fiction-Ästhetik“, sagt der Künstler, der als Aussage seiner Arbeit der Interpretation einer Systemkritik nicht widerspricht. (rom)
Die Arbeit „Für Meisen und Erlenzweisige“ wäre von Valentina Minnig um ein Haar „Eco-Piep“ getauft worden. Thema ist, dass wohl für Menschen, nicht aber für Tiere Einwanderungsgrenzen gelten. So sind der Marderhund, der Signalkrebs oder die Rostgans unterschiedlich willkommen, wie ein TV-Beitrag der Tagesschau zeigt. Aussen an den Fenstern des Kunstraums installierte Futtersäcklein locken derweil Vögel an – mal sehen, wieviele davon sich im geduldeten Artenrahmen legal hier aufhalten.
Daneben werden Fotoaufnahmen – etwa aus einem aargauischen Pflegeheim -, literarische Publikationen sowie Hörbücher und Audio-Files vorgeführt. Kunstraum-Kurator Richard Tisserand, der nicht zum ersten Mal mit der ZHdK Projekte durchführt, ist gespannt auf die Ergebnisse der Künstler und verspricht: „Der Kunstraum gewährt Blicke in die Zukunft.“
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Jeder eine Sonderwelt„Jeder Mensch ist eine Sonderwelt, die zu schätzen ist und die sich entwickeln soll. Die Herausforderung für die Gesellschaft ist nun, diese Welt in ein bestehendes Planetensystem einzubetten. Wenn diese Integration gelingt, wird die Welt insgesamt reicher.“ Prof. Dr. Nils Röller, |
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Orte verändern Prozesse„Der Kunstraum Kreuzlingen ist ein Ort, an dem künstlerische Experimentierfreudigkeit gelebt wird. Die Ausstellung bereiten wir seit März vor, sie entwickelt sich im Prozess. So verändern sich auch die Projekte bei der Tätigkeit vor Ort. In situ arbeiten heisst, die Räumlichkeiten zu spüren, Teil einer Arbeit werden zu lassen.“ Richard Tisserand, Kurator Kunstraum Kreuzlingen |
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Vernissage individuelle Arbeiten: Freitag, 5. Dezember um 19.30 Uhr.
Begrüssung: Nils Röller; Lesung: Peter Weber ("Der Wettermacher")
Gespräch: Sonntag, 11. Januar um 11 Uhr mit Ulrich Görlich und Hans Jörg Höhener, anschl. Neujahrsapéro der Thurg. Kunstgesellschaft
Konzert Finissage: Sonntag, 18. Januar um 16 Uhr, Streichtrio Opus 8, Magdalena Dür, Anton Vilkov, Irina Gintova
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Weitere Informationen hier:
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