von Inka Grabowsky, 14.08.2024
Kindermärchen in Schloss Hagenwil
«Hänsel und Gretel» muss nicht so grausam sein, wie von den Brüdern Grimm aufgeschrieben. Bei den Schlossfestspielen hat Regisseur Florian Rexer die Geschichte behutsam modernisiert und entstaubt, sodass das Kulturgut «Märchen» lebendig bleibt. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Woran man eine Hexe erkennt, wissen die Kinder, die das Vorprogramm besuchen, schon ganz genau. «Sie trägt einen spitzen Hut», «und sie lacht so komisch», sagen die 3-bis 7-Jährigen, die sich vom Theaterpädagogen Marc Probst erklären lassen, was im Stück auf sie zukommt. Die Vorkenntnisse reichen auch, um die Bilder, die Stationen des Märchens zeigen, in die richtige Reihenfolge zu sortieren. Doch wie mögen sich Hänsel und Gretel allein im dunklen Wald gefühlt haben? Um das herauszufinden, setzen sich einige freiwillig eine Augenmaske auf, während die anderen Waldgeräusche imitieren. «Ganz schön schwierig, so herumzulaufen», meint ein Mädchen.
Fast im Hier und Jetzt
Bei Vorprogramm und Musik werden Vorstellungen vom traditionellen Märchen bedient. Auf das bekannte Kinderlied «Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald» mochten die Festspiele nicht verzichten. Das Stück selbst aber löst sich in Teilen von der jahrhundertealten Vorlage. Der Innenhof von Schloss Hagenwil wird zum Bauernhof im Thurgau, auf dem Äpfel angebaut werden. Die Eltern sind nicht so arm, dass sie die Kinder loswerden müssen, sondern so beschäftigt, dass sie für Spiel und Spass keine Zeit haben. Damit rückt der grundlegende Eltern-Kind-Konflikt weiter in die Realität. Die Lösung des Konflikts mithilfe von Magie in der Grimm-Version (der gefundene Schatz) macht einer Lösung mithilfe der Psychologie in der Version von Regisseur Florian Rexer Platz. Am Ende wird Hänsel sein Abenteuer im Käfig der menschenfressenden Hexe nur geträumt haben. Seine Lektion gelernt hat er dennoch.
Einbezug des jungen Publikums
Diese erwachsene Lesart dürfte die massgebliche Zielgruppe – Kinder ab Kindergartenalter - getrost ignorieren. Am Premierennachmittag geniessen sie das Stück in vollen Zügen, insbesondere, wenn sie zum Mitmachen aufgefordert werden. Immer sind sie schlauer als der naive Hänsel (Mischa Löwenberg) und schreien ihre Warnungen lauthals heraus. «Es war ein tolles Premierenpublikum», lobt Jeanine Amacher (Gretel). «Aber auch wenn keiner antwortet, haben wir einen Plan B und wissen, wie es weitergeht». Gebraucht wurde er dieses Mal nicht. Sogar die böse Hexe bekam hilfreiche Antworten. «Kinder wollen eben Teil der Aufführung sein», so Mischa Löwenberg. Tatsächlich musste Hexe Deborah Loosli sogar improvisieren, weil die Resonanz auf ihre Frage «Was ist dein Lieblingsessen?» zu gross war. Den Hintergedanken «Womit soll ich Hänsel mästen?» nahmen die Kleinen offenkundig nicht wahr. Die Hexe konnte gar nicht aufhören, Rezeptvorschläge zu sammeln. «Nett tun und böse sein: Das ist eine interessante Aufgabe für mich als Schauspielerin», meint Deborah Loosli. «Aber den Hexen-Wutanfall zu spielen macht richtig Spass.»
Zeitgemäss verändert
Auch Florian Rexer hatte offenkundig Spass daran, für Familien zu inszenieren: «Ich habe selbst Kinder zu Hause», meint er lachend. «Denen muss man nur zuschauen und kann viel lernen.» Wer merkt, worüber Kinder im Familien-Alltag lachen, kann ein Theaterstück massschneidern. Ausserdem hat der Regisseur und Autor einige Witzchen für die Eltern eingebaut, die ihre Söhne und Töchter begleiten: «Hänsel kommt in den Steamer, nach einem Rezept vom alten Angehrn, einem Waldgnom», verkündet etwa die Hexe und spielt damit auf den Gastgeber in Schloss Hagenwil, den Gastronomen Andi Angehrn, an.
Märchen reformieren, um sie zu erhalten
In der Hagenwiler Inszenierung gibt es ein Happy End für alle Figuren. Die Eltern auf dem Thurgauer Apfelhof sind nicht grausam, sondern nur überarbeitet. Sie werden sich schliesslich Zeit für einen Ausflug mit ihren Kindern nehmen. Hänsel wird sich seinerseits nicht mehr vor der Mithilfe auf dem Hof drücken. Und sogar die Hexe hat Glück: Sie verspricht vegan zu werden und wird deshalb von den tierischen Helfern der Kinder aus ihrem Steamer befreit. «Es darf nicht zu gruselig sein», erklärt Florian Rexer. Besorgte Eltern hätten ihn extra angesprochen. «Ich kann garantieren: Das ist es bei uns nicht. Gleichzeitig will ich weiter Märchen erzählen. Es ist ein Kulturgut, das wir uns erhalten sollten.»
Ein Grundgerüst für die Fantasie
Dem Publikum wird in Rexers Inszenierung nicht alles fixfertig vorgesetzt. Die Menschen müssen mit der eigenen Fantasie ergänzen, was die Bühne nicht zeigt. Eine Sanduhr symbolisiert das Vergehen der Zeit. Die Einheit der Zeit ist im Hagenwiler Zauberreich aufgehoben. Und nur drei Schauspieler übernehmen alle Rollen. «Wir müssen aufs Budget schauen, damit sich Familien den Eintritt leisten können», so Rexer. Die Kinder nehmen es nicht übel. Merken tun sie es jedoch: «Die Mutter und die Hexe hatten die gleichen Schuhe an», kommentiert ein kleines Mädchen nach der 50-minütigen Vorstellung. Das Bühnenbild ist einfach. Vor der aufwendigen Kulisse für das Abendstück können Bühnenprospekte nach Bedarf hoch und runter gerollt werden. Fertig ist der Hintergrund. Dazu braucht es noch wenige Requisiten.
Wiederverwertet im kommenden Jahr
Die Beschränkung ist nicht nur dem Budget geschuldet, sondern auch der Tournee, die auf die Spielzeit bei den Festspielen in Hagenwil folgt. Im Herbst 2025 wird das Stück wieder aufgenommen und in zehn Doppelvorstellungen an zehn Samstagen in Märkten des Hauptsponsors Migros noch einmal aufgeführt. (Dieses Jahr läuft dort die Wiederaufnahme des Stücks Dornröschen.) «Das wird dann für uns ein frohes Wiedersehen», meint Mischa Löwenberg.
«Hänsel und Gretel» bei den Schlossfestspielen Hagenwil
Tickets kosten für Kinder 13 Franken im Vorverkauf bei Ticketino und 18 Franken an der Tageskasse. Für Erwachsene 19 bzw. 24 Franken.
Gespielt wird sonntags und mittwochs bis zum 4. September 2024. Das Vorprogramm beginnt um 14 Uhr, die Vorstellung um 15 Uhr. Am Sonntag, 1. September gibt es zusätzlich eine Matinee.
Von Inka Grabowsky
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