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von Barbara Camenzind, 04.09.2023

Medusenfang, versteinerte Mienen und ganz viel coole Musik

Medusenfang, versteinerte Mienen und ganz viel coole Musik
Die Geburt von Musik im metaphorischen Gerichtsaal: Nœise machte das Publikum zu Mitakteuren im “Fall Melissa G.” | © Barbara Camenzind

Die Premiere von Nœise “Stadt” vom letzten Donnerstag ist geglückt. Zumindest glauben wir das. Denn, das interaktive Musikprojekt in Weinfelden war so vielschichtig und rätselhaft, wie eine Meduse im Meer. Um die es ja auch ging, die mythische Medusa. thurgaukultur.ch heuerte eine Assistentin an und machte sich auf die Krimipfade zu besuchen. 

Text: Barbara Camenzind und Hannah Kluibenschädl

Vorab: Wir verzichten auf die medienübliche Rezension in dritter Person. Denn die verschwundene Melissa G. hat uns auf das Ich und das ganz persönliche Erleben im Stadtkörper Weinfelden reduziert. Vor dem Rathaussaal werden wir erst einmal eingeteilt. Meine Tochter Hannah, 15 Jahre alt, als Touristin in der Mitte bei der Richterin. Barbara, in der Seitengruppe bei der Verteidigung, sollte auf interaktive Schatzsuche gehen. (Schatzsuche. Ausgerechnet ich. 😉)

Doch halt. Erst ganz von Anfang an: Wir sind in eine Gerichtsverhandlung geraten. Vermisst wird Melissa G. Ein Detektiv namens Percy wurde angeheuert, sie zu suchen. Doch dieser, sowie die Vermisste sind zudem Angeklagte. Warum, wurde mir nicht ganz klar, denn spätestens, als die grossen Stimmgabeln gezückt wurden, hänge ich textlich ab, weil die Musik so spannend ist. Es schien, als hätte jede Protagonistin und der Protagonist einen eigenen Resonanzraum gefunden. Rita Bänziger als strenge Richterin mit versteinerter Miene, Naomi Schwarz als Verteidigung und Christoph Luchsinger als Ankläger. Die Klangpattern, die so schichtweise durch den Raum wabern, sind betörend schön und werden durch Luchsingers gedackte Trompete wunderbar ergänzt. Hannah, erst mit kritischem Seitenblick, was dieser Klangteppich soll, ist vollends fasziniert, als eine Person ihrer Gruppe am Tablet vor der Richterin eine Partitur erstellen kann, die dann sofort durch Léo Collins Samples läuft. „Wir haben erlebt, wie Musik entsteht. Cool…“, meint sie begeistert.
Offenbar kommt die Gerichtsverhandlung zu keinem Ergebnis - wir werden auf die Reise geschickt. 

Welches Rätsel steht nun an: Das Publikum hatte ordentlich zu tun bei Nœise. Bild: Barbara Camenzind

 

 

„ I chum nöd würklich druss, aber es isch mega!“

Okay, dann also QR-Code, IPhone, Airpods und Stadtplan. Ich kenne mich in Weinfelden so gar nicht aus. Aber immerhin, nach einigem Suchen habe ich das Restaurant gefunden, scanne den Code und merke, dass ich über Kopfhörer nichts von der feinziselierten Musik mitbekomme, weil der Verkehrslärm so laut ist. Aber Percy ist auf der Suche nach Melissa und in den düsterschaurigen Videos bricht ein doppelter Boden auf. Als würde im behäbig-behaglich-kuschligen Weinfelden eine gefährliche Parallelwelt existieren. Vielleicht tut sie das ja tatsächlich. Auf dem Platz vor der Einkaufspassage im 70erJahre-Schick stehe ich etwas verloren, weil ich beim besten Willen das Plakat mit dem QR-Code nicht finde. Ein alter Mann tippt mir auf die Schultern: „Suchst du Kunst? Hier!“ Und zeigt hinter die Säule.

Wo finde ich die nächste Viedeobotschaft? Sportlich-künstlerische Runde für die Autorin. Foto: Ein Weinfelder Mitspieler.

 

Es ist schon die Hälfte der freien Zeit vorbei und ich habe noch nicht einmal die Hälfte der Schatzsuche geschafft. Ich fühle mich alt. Atem - und etwas planlos. Aber im Fitnessstudio finde ich wieder weiter und treffe Hannah mit der Touristengruppe. Komponist Léo führt auf französisch, Richterin Bänziger übersetzt simultan.

 

Schräge Stadtführung durch Weinfelden: Komponist Léo Collin geht mit dem Publikum auf die Reise. Bild: Barbara Camenzind

 

Meine Tochter blinzelt mir mit den Riesenkopfhörern verschwörerisch zu: „Mama, es hat in meinem Kopf geregnet, wir mussten mit den Regenschirmen tanzen und der nette Trompeter sass plötzlich in der Beiz und hat gespielt.“

Tanz der blauen Regenschirme: Neue Musik erobert Weinfelden. (Foto: Barbara Camenzind)

 

Im Gegensatz zu mir, die mit den technischen Herausforderungen, den Distanzen, den Videos, den wunderbaren Samples des Komponisten in denen auch der Musikverein Weinfelden einen Auftritt hatte, und der synästhetischen Wahrnehmung des Stadtkörpers wieder keinen Platz hatte, der Geschichte zu folgen, konnte Hannah mir dann etwas besser Auskunft geben: Melissa G. wurde drei Mal zu Unrecht angeklagt. Wahrscheinlich wurde sie als die Gorgone Medusa verdächtigt, welche Leute versteinert. (Aha, daher die Quallen auf den Videos.)
Fazit von Hannah: „I chum nöd würklich druss, aber es isch mega“.

Etwas mehr Begleitung, bitte. 

Bei der zweiten Gerichtsverhandlung im Rathaus wird klar, jeder von uns hat die Geschichte anders erlebt und die neu dazu gekommenen Besucher werden in eine Art laufendes Verfahren hineingezogen. Mir kommt das Grausen. Ja, ich sass auch schon bei Gericht, mit versteinerter Miene. Wie beklemmend schön die Texte der Verteidigerin, als sie die kognitive Dissonanz ins Feld führte. Wenn Menschen nicht das tun, was sie sagen. Und wie Journalisten als Resonanzkörper agieren, die Aussagen und Handlungen einsortieren. Und eine Stadt als Klangkörper, als grosses Instrument und Bühne in einer Geschichte interagiert.

Mein Fazit: Nœises Stadt-Performance musste man sich fast in allen Teilen geben, um den Narrativ folgen zu können. Und gerne hätte man vielleicht, gerade wegen der Vielschichtigkeit, noch etwas mehr vorab gewusst. Denn so war vieles hoch anregend, aber krimitechnisch etwas unerlöst. Klar, eine Performance zu erklären, ist nicht unbedingt der Sinn derselbigen, aber in der Oper lesen wir uns vorher auch die Handlung durch, um dem Gesamtkonzept Musiktheater etwas besser folgen zu können. So blieb man als Publikum in der Vielschichtigkeit streckenweise etwas aussen vor. Weil Text und Musik so spannend zusammen-konzipiert waren, wäre es auch interessant gewesen zu erfahren, woher diese Aussagen, gerade die der Verteidigerin Naomi Schwarz stammten.

Die Verteidigung (Naomi Schwarz) geht auf Resonanz. BIid: Barbara Camenzind

 

Ja, vielleicht wäre etwas mehr Begleitung hilfreich gewesen, noch mehr in das Projekt einzutauchen. Aber alles in allem bot Nœise „Stadt“ wieder eine unglaublich spannende, poetische Reise in die Welt der Neuen Töne. Die in dieser Gestalt auch ein junges Publikum anspricht. Wir sind neugierig auf Teil zwei „Land“ im Januar. 

 

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