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von Simon Engeli, 12.01.2024

Schluss mit dem Innovationstheater!

Schluss mit dem Innovationstheater!
Herr Fässler: 0 Prozent innovativ, 100 Prozent authentisch. So muss Theater sein, findet Simon Engeli. | © Theaterwerkstatt Gleis 5

Mein Leben als Künstler:in (5): Wer heute als Künstler:in gefördert werden will, muss innovativ sein. Aber was heisst das schon? Simon Engeli über einen irreführenden Begriff und was Kulturförderung besser machen müsste. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Es gibt da dieses eine Wort in meinem Leben als Theatermacher, das sich für mich anhört wie kratzende Fingernägel auf einer Wandtafel. Es ist mein mit Abstand liebstes Hasswort im Zusammenhang mit Kunst und Kultur. Es lautet: „innovativ“.

Im Jargon der Kulturförderung wimmelt es nur so von „innovativ“. Kaum eine Stiftung, kaum ein Kulturleitbild einer Gemeinde, kaum ein Amt für Kultur scheint ohne das magische Wort auszukommen. Da werden „besonders innovative Kunstprojekte“ gefördert, „der Fokus auf innovatives Kulturschaffen“ gelegt oder „innovative Ansätze“ gefordert. Förderungswürdige Kultur, so die Botschaft an die Öffentlichkeit, ist innovativ. Und der Appell an uns Kulturschaffende lautet: Seid innovativ!

Ich halte die Verwendung der Begriffe „innovativ“ und „Innovation“ im Kulturbereich für unnütz bis schädlich. Hier erkläre ich warum; und zum Schluss mache ich einen Vorschlag, welche Worte wir stattdessen verwenden könnten.

Warum ich mit dem Begriff hadere

Der Ausdruck „Innovation“ stammt aus der Wirtschaftslehre. Das ist an sich noch kein Grund, ihn nicht auch in der Kultur zu benutzen, doch zu seiner Definition gehören zwei spezifische Merkmale, die uns aufhorchen lassen sollten.

Erstens beschreibt „Innovation“ einen „willentlichen und gezielten Veränderungsprozess hin zu etwas Erstmaligen“. Das leuchtet mir bei der Entwicklung von Elektromotoren und neuen Krebsmedikamenten auch total ein. Aber „gezielt“ und „willentlich“ in künstlerischen Prozessen? Kulturschaffende sind keine „Ingenieure der Seele“ (wie es sich Stalin wünschte), sondern schöpfen ihre Kreativität aus ihrer subjektiven und unmittelbaren Erlebniswelt. Wir haben nur sehr begrenzten Einfluss darauf, „was in uns steckt“.

 

Theater nach dem Lustprinzip: Szene der Inszenierung «In 80 Tagen um die Welt». Aufgeführt 2010 von der Theaterwerkstatt Gleis 5 im Schloss Girsberg. Bild: Theaterwerkstatt Gleis 5

Wie die Kulturförderung falsche Anreize setzt

Wenn Kulturschaffende dieses innere Kraftzentrum verlassen, um sich an forcierten äusseren Erwartungen („seid innovativ!“) zu orientieren, geht das meistens schief. Im Bankwesen würde man sagen, es führt zu falschen Anreizen: Der junge Konservatorium-Abgänger, der mit seinem neugegründeten Ensemble für Alte Musik nichts lieber täte als den langersehnten Händel-Zyklus aufzuführen, wird sich beim Lesen all des Innovation-Sprechs im Förderdschungel zweimal überlegen, ob er sein Projekt nicht noch etwas aufpeppen sollte.

Zur Musik vielleicht noch eine edgy Tanzperformance, unterstützt von sieben Beamern? Oder eine Verbindung mit Elektro-Klangcollagen, um die digitale Fragmentierung unserer postmodernen Zeit darzustellen? Die Chancen auf Förderung würden sicherlich steigen. Die schlichte Ursprungsidee aber wäre wohl um Welten ehrlicher, purer und radikaler gewesen. Einfach grosse Musik, die uns auch heute noch berührt. Gespielt von jungen, leidenschaftlichen, zeitgenössischen Musikern.

Wer nur auf Innovation schaut, dem entgehen die wahren Perlen

Oder jener Schauspieler zum Beispiel, den ich vor einigen Jahren mal auf einer Bühne gesehen habe. Seine Konzeptidee in einem Gesuchsdossier hätte sich etwa folgendermassen gelesen: „Ich komme auf die Bühne, plaudere zum Aufwärmen etwas mit dem Publikum, dann rezitiere ich ein paar Gesänge aus der „Göttlichen Komödie“ von Dante in voller Länge, dazwischen erkläre ich so dies und das zum Werk. Bühnenbild: Ein schwarzer Hocker.“

Eines ist sicher, in unserer innovationsbesessenen Förderkultur hätte dieses Gesuch kaum eine Chance. Zum grossen Glück für alle, die damals dabei waren, hatte der Schauspieler eine Förderung nicht mehr nötig. Sein Name war Roberto Benigni. Und der konventionelle, unoriginelle und grandiose Dante-Abend bleibt für immer in Erinnerung.

Zweitens lautet ein weiteres Definitionsmerkmal von „Innovation“, dass sich die innovative Wirkung immer erst rückwirkend feststellen lässt. Erst wenn sich ein Produkt (oder bei uns ein Kunstwerk, ein Stück, ein neuer Stil) erfolgreich im Markt (beim Publikum) durchgesetzt hat, kann man tatsächlich von einer Innovation sprechen.

 

Hätte in unserer innovationsbesessenen Förerkultur wohl kaum Chancen gehabt: Roberto Benignis Dante-Abend. Bild: Harald Krichel - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=93742362

Klingt fancy, ist aber ungenau

Wenn die Kulturförderung also vorab die Unterstützung „innovativer“ Projekte in Aussicht stellt und „innovatives“ Kulturschaffen einfordert, gibt sie damit vor, etwas beurteilen zu können, was sie aufgrund eines Gesuchs-Dossiers schlicht nicht beurteilen kann. Und so wird „innovativ“, wenn es vom Stuhl heruntersteigt, einfach nur ein ungenau benutztes, fancy klingendes Wort für „bitte was Neues“.

Aber dass „Neu“ kein Beurteilungskriterium für Qualität ist, weiss jedes Kind, das schon einmal einen „Zaubertrank“ im Garten zusammengebraut hat: Den neuen, innovativen „Mayonnaise-Hagebutten-Vogelfutter-Regentonnenwasser-Brei“ hat es bestimmt noch nie gegeben – und zwar aus gutem Grund.

Manche mögen hier einwenden, neue Ideen hätten es eben besonders schwer und darum müsse man diese fördern, und nicht die tausendfach bewährten, mutlosen Erfolgsmodelle. Das entspricht nicht meiner Berufserfahrung. Die Kluft zwischen Arbeitsaufwand, Produktionskosten und Existenzdeckung auf der einen, und vernünftigen Ticketpreisen, Einspielergebnissen und Publikumsreichweite auf der anderen Seite, besteht in einer ländlichen Kulturlandschaft wie der unseren unabhängig von Inhalt und Stil. Wer mit einem Molière auf eigene Faust auf einer Openairtournee durch die Ostschweizer Dörfer zieht, hat Kulturförderung ganz bestimmt nicht weniger nötig als der letzte Schrei aus dem „innovativen“ Theaterlabor.

Evolution statt Innovation

Will ich also die immer gleiche, langweilige Kunst? Will ich Stillstand statt Fortschritt? Keineswegs. Darum hier wie versprochen meine absoluten Lieblingsworte im Kulturbereich, die sich so schön anhören wie ein sprudelnder Gebirgsbach im Bündnerland: Das Gegenteil von „innovativen“ Kulturschaffenden sind „authentische“ Kulturschaffende. Und das Gegenteil von „Innovation“ heisst nicht Stillstand. Das Gegenteil von „Innovation“ heisst „Evolution“.

Veränderung, Wandel und Entwicklung in der Kunst ergeben sich ohne gezielte, willentliche Absicht ganz einfach dadurch, dass Kulturschaffende das, was sie tun, auf ihre eigene, authentische Weise tun. Fördern wir authentische Künstlerinnen und Kulturschaffende, kommt ganz von selbst eine vielseitige Kultur-Evolution in Gang, die so wenig einen „innovativen“ Plan nötig hat, wie unsere Erde damals einen „intelligenten Designer“ brauchte, um die ersten Einzeller hervorzubringen.

Was ich mir von Kulturförderung wünsche

Der Kulturförderung kommt dabei die wichtige und verdienstvolle Aufgabe zu, diese Evolution zu ermöglichen, zu schützen und zu unterstützen. Sie soll die gute Kultur fördern, die da ist. Und nicht die, die sie selbst gerne hätte.

Darum, liebe Stiftungsrätinnen, Kulturbeauftragte und Kulturpolitiker: Öffnet die Worddokumente mit euren Förderkonzepten und Leitbildern, wählt „Suchen und Ersetzen“ und verwandelt jedes wischiwaschi-„innovativ“ in ein eigenwilliges, kerniges „authentisch“ und jede Etepetete-„Innovation“ in eine kraftvolle, unaufhaltsame „Evolution“. Es würde so viel besser zu uns passen.

Es geht weiter! Zweite Staffel der Serie «Mein Leben als Künstler:in» läuft!

Die zweite Staffel der Kolumnenserie «Mein Leben als Künstler:in» ist gestartet. Dieses Mal schreiben diese vier Künstler:innen Geschichten aus ihrem Leben:

 

  • Simone Keller, Pianistin
  • Simon Engeli, Schauspieler, Regisseur, Theatermacher
  • Rahel Buschor, Tänzerin
  • Sarah Hugentobler, Videokünstlerin

 

Alle Beiträge der ersten Staffel gibt es gebündelt im zugehörigen Themendossier.

 

Die Idee: Mit der Serie „Mein Leben als Künstler:in“ wollen wir den vielen Klischees, die es über Künstler:innen-Leben gibt, ein realistisches Bild entgegensetzen. Das soll unseren Leser:innen Einblicke geben in den Alltag der Kulturschaffenden und gleichzeitig Verständnis dafür schaffen, wie viel Arbeit in einem künstlerischen Prozess steckt.

 

Denn nur wer weiss, wie viel Mühe, Handwerk und Liebe in Kunstwerken steckt, kann die Arbeit von Künstler:innen wirklich wertschätzen. So wollen wir auch den Wert künstlerischer Arbeit für die Gesellschaft transparenter machen. Neben diesem aufklärerischen Ansatz ist die Serie aber auch ein Kulturvermittlungs-Projekt, weil sie beispielhaft zeigt, unter welchen Bedingungen Kunst und Kultur heute entstehen.

 

Bereits zwischen Juni und Oktober hatten die vier Künstler:innen Ute Klein, Fabian Ziegler, Thi My Lien Nguyen über ihren Alltag und ihre Arbeit berichtet. Alle erschienenen Beiträge der Serie bündeln wir im zugehörigen Themendossier

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