von Inka Grabowsky, 20.11.2023
Schöner Wohnen im Mittelalter
Das Schloss auf der Burg: Die Archäologin Iris Hutter hat unter Schloss Altenklingen bei Märstetten die Fundamente der Burg Klingen entdeckt. Auch spannend: Schon vor tausend Jahren haben Menschen Wert auf repräsentatives Bauen gelegt. (Lesedauer: ca. 8 Minuten)
«Es wird oft angenommen, dass eine Burganlage im Laufe der Jahrhunderte zu einem Schloss weiterentwickelt wurde, aber es ist selten, dass man das archäologisch nachweisen kann.» Damit ordnet der Mittelalterarchäologe Armand Baeriswyl die Leistung von Iris Hutter ein. Er ist im Vorstand des Schweizerischen Burgenvereins und Zweitbetreuer der Doktorarbeit der jungen Archäologin. «Es ist schon sehr cool, dass ich das fehlende Glied zwischen Ruine und Schloss habe nachweisen können», freut sie sich – und beeilt sich zuzufügen, dass sie für einen Teil ihrer Arbeit «nur» die Grabungen früherer Archäologen ausgewertet habe.
Teamwork über hundert Jahre hinweg
Schon 1903 hatten drei junge Männer aus Märstetten begonnen, an der Altenburg zu graben. «Sie holten sich von der Bürgergemeinde eine Bewilligung und machten bald erste spektakuläre Funde, vergoldete Beschläge etwa», so Iris Hutter. Der Dorfpfarrer machte die Fundstücke bekannt, so wurde das Landesmuseum (also heute das Schweizerische Nationalmuseum) aufmerksam: «Es hob die Grabung im Jahr 1910 auf ein professionelles Niveau», sagt die Archäologin. Weil es die Grabungen finanzierte, bekam es auch die Funde - unter anderem eine Bronzeplatte mit einem löwenförmigen Knauf. «Dumm war, dass der Löwenknauf im Museum aus einer zu dem Zeitpunkt offenen Vitrine gestohlen wurde. Glück im Unglück ist, dass es Repliken gibt, die den drei Erstausgräbern als Anerkennung überreicht worden waren. Zwei davon sind erhalten.»
Hundert Jahre später gingen die Arbeiten weiter. Das Amt für Archäologie des Kantons machte sich 2014/15 an die Sicherung der Mauern und erhob neue Befunde. «Ich bin selbst als junge Studentin bei der Grabung 2014 dabei gewesen», erzählt Hutter. «Aber das ist nicht der Grund für meine Themenwahl. Ich habe nach meinem Master einfach überlegt, was genug Stoff für eine Doktorarbeit gibt.»
Viele neue Erkenntnisse
An Material mangelt es der Wissenschaftlerin nun tatsächlich nicht. Sie hat bei der Altenburg, Burg Klingen und Schloss Altenklingen vier Aspekte untersucht: «Ein Bau muss praktischen Ansprüchen genügen, also zum Beispiel wohnlich sein. Eine Burg oder ein Schloss soll repräsentativ sein. Und Wehrhaftigkeit spielte auch eine grosse Rolle. Ausserdem habe ich bei allen drei Gebäuden geschaut, ob es spezielle Bauleistungen gab. Für die Zeit war es wichtig, die Zugehörigkeit zum Christentum auszudrücken. Auch das prägte die Bauten einer Burg.»
Die meisten erhaltenen und bisher untersuchten Burgen im Thurgau stammen aus dem 13. Jahrhundert. Iris Hutter konnte nun anhand von Proben, die bei der Grabung 2014/15 genommen worden waren, feststellen, dass die Altenburg schon um das Jahr 900 bewohnt war. Das an sich wäre schon eine Sensation, doch die Archäologin fand noch mehr. Zu den Wohn-Grundbedürfnissen zählen Schutz, Zuwegung und Wasserversorgung. Und die war vor tausend Jahren in der Altenburg auf dem neuesten Stand der Technik: Hutter wies einen sogenannten Sodbrunnen nach. In dem Schacht sammelt sich Wasser aus wasserführenden Schichten im Boden. «Tatsächlich ist es grossartig, anhand von solchen Funden Bautraditionen zu verfolgen. Auch im 686 Jahre später gebauten Schloss gab es einen solchen Sodbrunnen. Quellen besagen aber, dass er eigentlich nie recht funktioniert hat, er musste immer mal wieder saniert werden. Die Bewohner:innen des Schlosses bezogen ihr Wasser ohnehin aus anderen Quellen. Der Brunnen war also nicht notwendig. Trotzdem legten sie Wert darauf, vielleicht, weil es hier eben immer einen solchen gegeben hatte und er früher so wichtig war.»
Schon vor tausend Jahren wollten die Menschen mit ihrem Haus angeben
Sind die Grundbedürfnisse erfüllt, legt man bei Aus- und Umbauten mehr Wert auf Repräsentation. Das war vor tausend Jahren nicht anders als heute. Nach Hutters Erkenntnissen investierte man in der Altenburg recht bald in einen Turm, leider an einer statisch nicht gut geeigneten Ecke, die dafür sehr gut einsehbar war. «Beim zweiten Versuch wurde er etwas nach innen versetzt. Es muss wichtig gewesen sein, einen Turm zu haben, sonst hätte man sich diese Mühe nicht gemacht.»
Richtig wichtig war den frühen Herren von Klingen auch die Kapelle. In der Altenburg kann man aufgrund von Befunden darauf schliessen, dass sie sofort beim Bau einen Sakralraum eingerichtet haben. «Wir sehen in der Ruine immer noch, wo der gemauerte Altar stand, dass es einen hochwertigen roten Mörtelboden gab, dass eine Sakramentsnische neben dem Altar in die Mauer eingebaut war. Und aufgrund von Farbresten im Boden können wir sogar sagen, dass der Raum ausgemalt war.» Dass dieser Raum «geostet», also nach Osten ausgerichtet war, gibt noch die letzte Bestätigung. Solche Räume seien in die Region nur selten nachgewiesen, so die Expertin. «Sobald sie sich in einem der oberen Stockwerke der Burg befanden, sind sie spurlos verschwunden. Aufgrund von schriftlichen Quellen wissen wir aber, dass jeder Ritter die Glaubensanbindung brauchte. Ein privilegierter Zugang zu Religion zeigte den Stand. Man leistete sich deshalb eine Kapelle.»
Burg Klingen
Nach der Altenburg zog vermutlich das Adelsgeschlecht derer von Klingen um das Jahr 1200 herum in die Burg Klingen. Historische Zeugnisse belegen, dass sie existierte, aber wo sie sich befand, wusste man bisher nicht. «Bei der Untersuchung von Schloss Altenklingen fiel mir im Keller im unteren Teil der Wände altes Mauerwerk auf», erzählt Iris Hutter. «Es muss schon bestanden haben, als das Schloss errichtet wurde.» Damit gab es den lange gesuchten Beleg: Das Schloss steht auf den Fundamenten der Burg. Nun kann man zusätzlich grob sagen, aus welchem Material sie gebaut wurde und wie gross sie war. «Früher war grösser nicht besser, weil grosse Räume nicht gut zu beheizen sind. In den frühen Zeiten der Burgen haben wir kompakte Gebäude mit kleinen Räumen.»
Schloss Altenklingen
Altenklingen ist seit rund 450 Jahren im Besitz der Familie Zollikofer. 1586 liess Leonard Zollikofer das Schloss bauen – und die Familie ist nach wie vor im Besitz eines hölzernen Modells, anhand dessen der Bauherr die Anlage geplant hat. «Solche Modelle haben sich sonst nur von Gebäuden wie dem Petersdom in Rom oder San Marco in Venedig erhalten», freut sich Iris Hutter. Für die Forschung aufschlussreich ist der Vergleich zwischen den Ideen des Zimmermannes und der tatsächlich umgesetzten Form. «Im Schloss gibt es einen Treppenturm, also einen runden Einbau mit enger Wendeltreppe, um in die oberen Stockwerke zu kommen. Das Bauelement Wendeltreppe war um 1580 aber schon völlig veraltet. Das Holzmodell zeigt so auch eine zeitgemässe Lösung mit zentraler Treppe. Aber offenkundig wollte der Bauherr die Retro-Variante, die eigentlich sehr unpraktisch ist. Die Selbstdarstellung als Burgbesitzer war ihm wichtiger.»
Ritter geben Prestige
Im Schloss gibt es noch diverse Bauelemente, die sich auf die längst vergangene Ritterzeit beziehen: Im Durchgang vom kleinen zum grossen Schloss steht eine Mauer mit Zinnen. Eigentlich soll man sich hinter die Zinnen stellen können, wenn man Angreifer beschiessen will. «Aber das geht hier gar nicht», sagt Iris Hutter. «Das Dach auf der Hofseite würde stören. Genauso sind die Schiess-Scharten im Schloss alle nicht nutzbar, weil der Raum dahinter zu klein ist, um ein Gewehr anlegen zu können.» Der Bauherr im 16. Jahrhundert wollte sich mit diesen rein dekorativen Elementen mit den Rittern in Verbindung bringen, um seine soziale Stellung zu begründen.
Win-Win-Situation
Für Bauarchäologinnen wie Hutter ist ein Schloss, das von einer Familie liebevoll in seiner alten Form bewahrt wird, ein Glücksfall. Umgekehrt bedankt sich Christoph Zollikofer als Vertreter der Familie für das Interesse der Wissenschaftlerin: «Altenklingen hat enorm profitiert», sagt er. «Endlich haben wir genaue Pläne von der Anlage und eine exakte Chronologie.» Der Hausherr würdigte auch explizit Regierungsrätin Monika Knill, die sich dafür eingesetzt habe, die nötigen Finanzmittel für die Untersuchungen zur Verfügung zu stellen. Knill ihrerseits gratuliert Iris Hutter: «Wir schauen doch alle gern hinter Vorhänge», sagt sie bei der Vernissage. «Sie haben einen Nerv getroffen, weil wir wissen wollen, wie unsere Vorfahren gelebt haben.»
Die Dissertation «SCHÖNER WOHNEN - Standesgemäss Wohnen zwischen 900 und 1600 anhand der Anlagen Altenburg, Burg Klingen und Schloss Altenklingen» von Iris Hutter ist als Band 22 in der Reihe «Archäologie im Thurgau» und als Band 47 in der Reihe «Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters» des Schweizerischen Burgenvereins erschienen. Es kostet 50 Franken.
Veranstaltungen zum Thema:
13.02.24, 20 Uhr: Vortrag in der Reihe der Volkshochschule Mittelthurgau
06.03.24: Öffentlicher Jahresvortrag
20.04.24: Geführte Exkursion zur Ruine Altenburg und Schloss Altenklingen vom Museum für Archäologie Thurgau (nur mit Anmeldung ab Programmveröffentlichung 2024 möglich)
Von Inka Grabowsky
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