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von Anabel Roque Rodríguez, 01.01.2023

Vom Alltag berührt

Vom Alltag berührt
Die Künstlerin bei der Arbeit: Veronika Dierauer. | © zVg

Ein Rollkoffer aus Marmor, ein Thron zum Träumen - die Skulpturen von Veronika Dierauer stehen immer in engen Bezug zum Alltäglichen. Nun wurde die Künstlerin mit dem ERNTE-Kunstpreis 2022 ausgezeichnet. Anlass genug, ihr ein Porträt zu widmen. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Die Künstlerin Veronika Dierauer ist ein naturnaher Mensch. «Ich bin durch das Material meiner Arbeiten mit der Natur verbunden. Ich mag es, dass der Stein so still ist. Im Schaffen kommt man fast wie in eine Art Trancezustand durch das stetige Bearbeiten der Oberfläche. In der Sphäre ändert sich auch die Wahrnehmung von Zeit, eine Stunde kann einem dabei wie eine Minute vorkommen.»

Auch unser Empfinden von Zeit verändert sich in Situationen, in denen das Leben dramatische Wendungen erfährt. Wir alle haben in den Pandemiejahren gelernt, was es heisst, wenn die Welt vermeintlich stillsteht und sich plötzlich alles schwer anfühlt.

 

«Mir gefallen Arbeiten, die ambivalent sind und Geschichten erzählen.»

Veronika Dierauer, Künstlerin

Die Künstlerin hat diesem Gefühl eine Arbeit gewidmet: die Skulptur «Standby», einem aus Marmorstein gehauenen Koffer, mit dem die Künstlerin aus Kaltbach den mit 10'000 Franken dotierten Schaffhauser ERNTE-Kunstpreis 2022 gewonnen hat.

Der zweckmässige Rollkoffer wird unbrauchbar in Marmor gehauen und stattdessen zu einem Artefakt der Zeit mit allen Assoziationen, die die Einschränkung von Reisefreiheit für den Einzelnen bedeutet hat.

 

Prämiert: Das Werk «Standby» von Veronika Dierauer, ein Rollkoffer aus Marmor. Bild: zVg

Vom Zauber im Alltäglichen

Es ist nicht das einzige Mahnmal der Pandemie. Ihre Arbeit «Panic» zeigt eine überdimensionale Seife aus Marmor in der noch das Wort trotz der Abnutzung zu lesen ist. Es sind genau diese Arten von Stillleben mit denen die Künstlerin zeigt, dass es gar nicht komplizierte Motive sein müssen, sondern der Alltag und seine Zerbrechlichkeit genügend Fülle für Inspiration bieten.

Es sind Motive, die von Beständigkeit und Wertschätzung des Alltäglichen erzählen und damit unserer von Schnelligkeit gekennzeichneten Welt plötzlich etwas entgegensetzen: einen Moment des Innehaltens. Denn allein durch die Grösse der Motive und dadurch, dass sie hoch erzählerisch sind, laden sie zum Pausieren ein.

 

Veronika Dierauers Arbeit «Panic».

 

«Marmor evoziert Dekadenz, es ist ein Material für Krönungspalaste, ein Symbol für Macht und Reichtum.»

Veronika Dierauer, Künstlerin

«Ich liebe unterschiedliches Material: Kalkstein, Sandstein…Granit vielleicht weniger, weil er so hart ist. Das Material hängt immer sehr von dem Thema ab, dass ich bearbeite, denn es erzählt selbst schon eine Geschichte. Marmor evoziert Dekadenz, es ist ein Material für Krönungspalaste, ein Symbol für Macht und Reichtum. Das spielt für meine Arbeiten eine ganz wesentliche Rolle»

Auch in ihrer Arbeit «Thron», die mitten in der Unterwalliser Stadt Martigny zu sehen ist, spinnt sich die Geschichte vom Material aus weiter. Das Kunstwerk ist für die Bildhauerin ein Symbolbild für Träume. Die Arbeit zeigt einen Thron, der an einen aufblasbaren Poolsessel erinnert in einer Wasserpfütze schwimmend beziehungsweise in einem Wasserbecken mit Wasserhahn.

Bildhauerin aus Leidenschaft

«Die Inspiration zu der Arbeit kam mir beim Hören der Hip-Hop-Gruppe Sens Unik und ihrem Lied «Dream». In einer Liedzeile heisst es, dass wir alle das Bedürfnis zu träumen haben und genau darauf baute ich die Arbeit auf. Ich habe mich gefragt, was ich mit dem Träumen verbinde. Durch meine Arbeit an der PET-Flasche war ich noch nah am Plastikthema und so kam die Idee zum blow chair, der ja ein Thron sein kann, aber auf Luft basiert. So wie unsere Träume, die irgendwie auch wie Luft nicht greifbar sind. Mir gefallen Arbeiten, die ambivalent sind und Geschichten erzählen. Kunst wird für mich interessant, wenn es noch eine weitere Dimension hat und in den Köpfen der Betrachter abspielt.»

So ist auch der Werkname bei der Künstlerin nie zufällig gewählt, sondern immer auch schon ein Hinweisgeber für die Erzählung, die hervorgerufen werden soll.

 

Die Arbeit «Thron», die mitten in der Unterwalliser Stadt Martigny zu sehen ist. Bild: zVg

 

 

«Am Anfang muss man durch Schmerzen durch.»

Veronika Dierauer, Künstlerin

Zur Beschaffung ihres Materials fährt die Künstlerin selbst nach Italien, ins Herz von Carrara mitten in den Steinbruch. Der Bezug zum Stein und dem Ort ist ihr wichtig. Im Gespräch spürt man ihre Liebe zum Handwerk, dabei ist der Beruf fordernd: «Vom ersten Moment an habe ich mich in der Bildhauerei daheim gefühlt. Dabei ist der Beruf streng, der Körper ist nicht unbedingt für die Anstrengung gemacht. Am Anfang muss man durch Schmerzen durch, das ist auch meist der Moment in dem man merkt, ob man das möchte oder nicht. Für mich ist es nach wie vor eine Freude.»

Die Arbeiten der Künstlerin zeigen eine tiefe Wertschätzung des Alltäglichen und bewahren sich dadurch einen poetischen Blick auf die Welt. Auch ihre PET-Skulpturen zeigen die Schönheit im Banalen. «Jede PET-Flasche kommt individuell daher. Wenn man sie genauer ansieht erkennt man erst wie schön jede einzelne ist. Durch die Vergrösserung einer einzelnen Flasche vergrössert sich der Eindruck natürlich. Mir geht es aber auch um die Wertschätzung unserer Ressourcen. Auch eine PET-Flasche kommt aus dem Boden und ist ursprünglich aus Öl.»

Der Titel der grossen PET-Flasche lautet «Water» und spielt hier in Abwandlung auf das bekannte Bild des halbvollen beziehungsweise halbleeren Glases an, als Sinnbild für einen Optimisten oder Pessimisten. Man kann sich also überlegen, wie das Verhältnis zu unseren Ressourcen und dem unaufhaltsamen Klimawandel aussieht.

Meditation auf unseren Alltag

Veronika Dierauers Arbeiten wirken wie eine Meditation auf unseren Alltag und schaffen es unaufgeregt, kleinen Dingen Aufmerksamkeit zu geben, die das Leben oft ausmachen. Es sind minimalistische Stillleben banaler Objekte, die durch Wertschätzung gepaart mit Sozialkritik und Poetik, zu modernen Aussagen über das Leben werden.

Im Kern der Arbeiten dreht es sich um den Menschen, seine Erfahrungen und die Frage «Was und warum berührt mich das?» Eine Frage, der wir häufiger nachgehen sollten.

 

PET-Flasche aus Marmor. Bild: zVg

 

 

 

 

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