von Anke Klaaßen, 14.07.2025
Wie die Thur durch unsere Kultur fliesst

Es ist nur ein Fluss und doch ist es viel mehr: Eine Recherchereise zu den Spuren der Thur im zeitgenössischen Kunstschaffen des Kantons. Teil 1: Eine Einführung. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Flüsse, Berge und Seen, die Natur unserer Wohnorte prägt unsere Art zu leben und fliesst in Kunst und Kultur ein. Im Thurgau ist es neben Bodensee und Rhein vor allem die Thur, die die Landschaft prägt und sogar im Kantonnamen enthalten ist. Nichtsdestotrotz steht sie im Kulturschaffen zumeist im Schatten von Rhein, Bodensee und den nahen Alpen.
Die Spuren, die sie dennoch zeichnet, sind schwerer zu finden, aber es gibt sie durchaus. Ich bin ihren Spuren in Kunst und Literatur in der Vergangenheit gefolgt, habe dabei Sagen, Märchen, Geschichten und Bilder gefunden, die ins Jetzt hinüberleuchten.
Es gibt viele Perspektiven auf die Thur
Aus der Gegenwart sprach ich mit Kulturschaffenden aus dem Thurgau über ihre künstlerische Beziehung zur Thur. Viele empfinden die Thur als Inspiration und Rückzugsort. So wenig die Thur in der Realität noch mäandern darf, mäandert sie jedoch in der Gedankenwelt und Werken der Kulturschaffenden. Auf die Thur blicken die Kulturschaffenden aus den unterschiedlichsten Perspektiven, mit Nähe und Distanz, und so spiegelt sich der Fluss auch in ihren Werken in ganz unterschiedlicher Form.
Wie alle Flüsse weist die Thur über sich hinaus – symbolisch steht sie für den Quell des Lebens, Wasser und Wachstum. Sie verkörpert in ihrem stetigen Fluss das Vergängliche, die Veränderung, den Wandel, lässt an den mythischen Fluss Styx, Grenze zwischen dem Reich der Lebenden und Toten denken, sie steht für Reise und Entwicklung, Sehnsucht nach einem Anderswo, ihr Wasser kann Reinigung und Erneuerung bedeuten, sie grenzt ab oder verbindet und ist Projektionsfläche für eigene biographische Themen.
All diese „flussübergreifenden“ Aspekte finden sich auch in den Werken, die es von der Thur gibt. Sei es in den Bildern von Max Bottini oder Willi Oertig, einer Installation von Christoph Rütimann, den Fotobänden von Dieter Berke und Marco Zedler, in Gedichten, Texten von Zsuzsanna Gahse, Michèle Minelli oder Peter Höner.

Der ganz eigenen Charakter des Flusses
Neben dem Metaphorisch-Symbolischen besitzt die Thur über ihre konkrete geographische Lage und ihre individuelle Biographie einen ganz eigenen Charakter, der sie von anderen Flüssen unterscheidet, mit manchen verbindet. Die Geschichte der Thur währt lange aus Menschensicht und schliesst ihr Werden als Fluss, ihre Entwicklung als organisches biologisches System mit all den Lebewesen, die in ihr leben, und auch ihre Beziehung zu uns Menschen ein.
Durch ihre ausgiebigen Überschwemmungen und auch nach den Korrekturen brach die Thur immer wieder Dämme. Für die Thurtalbewohner war sie schon immer ambivalent, obwohl sie das lebensnotwendige Wasser brachte. Zu der Zeit, als es noch keine Brücke gab, konnte die Überquerung bei Hochwasser über Furten zu Fuss oder Pferd und mit der Fähre schnell den Tod bringen und bis heute kommt es immer wieder zu tragischen Unfällen. 1701 bezeichnete der Pfarrer von Pfyn die Thur als „leidige land und leuth fressende Thur“.
Die Thur gilt als nicht schiffbar, trotzdem versuchen wir es immer wieder
Im Mittelalter und früher Neuzeit suchten zahlreiche Menschen in der Thur den Freitod, ausserdem wurden bis 1552 die Leichen von Menschen, die Suizid begangen hatte, in Fässer geschlagen und in den Fluss geworfen. Die Thur gilt als nicht schiffbares Gewässer, obgleich sie dennoch in früheren Zeiten trotz aller Gefahr immer wieder auch als „Wasserstrasse“ genutzt wurde. Heute lassen sich vor allem Kanus und seit neuestem auch Riversurfer von ihren Wellen tragen.
Gerade durch ihre Begradigung, die ihr das ihr eigene Mäandern und freie Fliessen verwehrt, scheinen sich viele Künstler:innen mit der Thur zu identifizieren – und sie als eigenes Wesen wahrzunehmen, sie als ein solches zu erzählen und darzustellen. Damit erhält die Thur ein eigenes Gesicht und eine eigene Stimme – was an die Antike denken lässt, als noch Flussgötter existierten und für diese Tempel gebaut wurden – auch heute werden in Indien noch Flüsse, zum Beispiel der Ganges als heilige Flüsse verehrt, bei den Maori gelten manche Flüsse als Ahnen.

Kann ein Fluss Persönlichkeitsrechte haben?
Immer mehr Flüsse werden, oftmals auf Wunsch von indigenen Völkern, als juristische Person anerkannt – unter anderem der neuseeländische Whanganui River, der Rivière Magpie in Kanada, der Amazonas in Kolumbien. Damit verbunden sind bestimmte Rechte und somit eine bessere Möglichkeit, den Fluss als ökologisches System und Lebensader zu schützen.
Diese Rechte hat die Thur nicht – wenngleich auch sie sich oftmals in einem Spannungsverhältnis zum Menschen befindet. Wie lassen sich die ökologischen Bedürfnisse des Flusses, der Verlust der Artenvielfalt, seine Gefährdung durch Verschmutzung, Klimawandel und die Nutzung durch den Menschen vereinbaren mit den Bedürfnissen der Menschen, sich vor Hochwassern zu schützen und das Land, um die Flüsse und das Wasser zu nutzen? Ein konfliktreiches Verhältnis, das in seiner Widersprüchen von den Kulturschaffenden reflektiert wurde und wird.
Weiter zu Teil Zwei der Serie über die Literatur und die Thur.
Die Serie zur Thur & der Recherchefonds
In vier verschiedenen Episoden hat sich unsere Autorin Anke Klaaßen mit der Thur und ihren Auswirkungen auf das aktuelle Thurgauer Kulturschaffen beschäftigt. Sie folgt ihren Spuren durch, Literatur, bildender Kunst und Fotografie. Die Folgen werden in den nächsten Wochen erscheinen. Alle Beiträge werden in einem eigenen Themendossier gebündelt.
Die Serie ist entstanden im Rahmen unseres Recherchefonds. Im vergangenen Jahr haben wir diesen Fonds mit Unterstützung der Stiftung für Medienvielfalt Basel und der Crescere Stiftung Thurgau gegründet. Der Fonds ermöglicht aufwändige Recherchen und gibt den Autor:innen die notwendige Zeit und das Geld, um intensiv an einem Thema arbeiten zu können. Mehr zum Recherchefonds gibt es hier. Alle bisher mit Hilfe des Recherchefonds realisierten Beiträge findest du hier.
Die Thur durchströmt den Kanton Thurgau von Südosten nach Nordwesten. Doch wann und wo ist sie „geboren“? Seit wann genau es die Thur gibt, ist nicht ganz klar zu sagen – vielleicht gab es eine Vorgängerin der Thur schon vor fünf oder vier Millionen Jahren, die Thur entstand über einen grossen Zeitraum und mit ihrer Entstehung wandelte sich auch ihr Verlauf. Das heutige Thurtal formte sich mit dem Abschmelzen der Gletscher am Ende der letzten Eiszeit, vor 10 bis 15 000 Jahren.
Als Geburtsort – da könnte man ihre Quelle nennen. Die Thurquelle befindet sich am Chalbersäntis oberhalb von Unterwasser im Toggenburg. Die junge Thur springt über zwei Wasserfälle, die Thurfälle im Cämmerlitobel, bei Unterwasser fliesst sie dann mit der Wildhauser Thur zusammen. 72,6 km strömt die Thur dann durch den Kanton St. Gallen, im Toggenburger Quellgebiet ist sie ein richtiger Wildbach, schlängelt sich durch enge Täler.
Bis Kradolf fliesst der Fluss noch auf felsigem Untergrund, dann löst Kies die Felsen ab und gleichzeitig weitet sich das Tal. 45,6 Kilometer fliesst die Thur durch das Thurgau, 22 Kiloimeter im Kanton Zürich, wo sie bei Flaach in den Rhein mündet. Mit einer Gesamtlänge von 134,6 Kilometern ist sie nach dem Rhein der zweitlängste Fluss der Ostschweiz. Von der Quelle bis zur Mündung in den Rhein wird die Thur nirgends von einem See gebändigt. Das Einzugsgebiet der Thur über ihre Neben- und Zuflüsse erstreckt sich über 1760 km². Zum Vergleich: Der Thurgau ist 991km² groß.
Im Thurgauerlied heisst es noch „O Land, das der Thurstrom sich windend durchfliesst“ – tatsächlich hat sich die Thur über die Jahrhunderte ein Tal geschaffen, das teilweise 2,5 km breit ist. Lange Zeit nutzte die Thur die ganze Breite dieses Tal, in Mäandern wand sich der Strom über die Ebene, umwachsen von Auenwäldern, mit Kiesbänken und Stillwassern. Regelmässig überflutete die Thur das gesamte Tal, so dass die landwirtschaftliche Nutzung des Bodens rund um die Thur schwierig war und Siedlungen zunächst an den geschützten Hügeln entstanden.
Zum Hochwasserschutz und der Gewinnung von landwirtschaftlichen Flächen wurde die Thur dann im 19. Jahrhundert kanalisiert und bekam ihr erstes künstliches Bett von 45 Metern Breite. Bald folgten Hochwasserdämme und Binnenkanäle – von einem sich windenden Fluss kann seitdem im Thurgau nicht mehr wirklich gesprochen werden – vielmehr durchfliesst die Thur den Kanton zu grossen Teilen schnurgerade. Doch obwohl viele Korrekturen folgten, ist die Thur nicht gezähmt, sondern durchbrach immer wieder die Dämme.
Inzwischen darf sich die Thur an einigen Stellen wieder winden – im Kanton Zürich wurde sie auf ihren letzten fünf Kilometern komplett aus dem menschgemachten Korsett befreit, dort entstanden neue Lebensräume für seltene Tiere und Pflanzen. Wertvolle Auenwälder und Flusslandschaften und damit zahlreiche Pflanzen- und Tierarten waren mit den Korrekturen verloren gegangen. Auch um diese teilweise zurückzuholen, wurde im Thurgau ein Hochwasserschutz- und Revitalisierungskonzept für die Thur gestartet: Thur3. Ziel ist der Hochwasserschutz, eine Stabilisierung der Sohlenlage und eine ökologische Aufwertung, was mehr Freiraum für die Thur bedeutet. Das Konzept ist als Generationenprojekt für die nächsten 30 Jahre angelegt.

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