von Katrin Zürcher, 22.05.2013
Junge Steinkunst aus Mannenbach
Ohrringe aus geschliffenen Bodenseekieseln, ein Engel aus Vinschgauer Marmor, eine Skulptur aus Rorschacher Sandstein: Die Mannenbacher Bildhauer Anna Erdin, Andreas Lindegger und Sven Berger hinterlassen ihre künstlerischen Spuren vorzugsweise auf Steinen aus der Region.
Katrin Zürcher
„Bildhauer-WG“ steht auf der rötlichen Steintafel neben der Eingangstür. Seit drei Jahren arbeiten im alten Bauernhaus an der Hauptstrasse 4 in Mannenbach, gegenüber dem Restaurant Löwen, eine Steinbildhauerin und zwei Steinbildhauer, alle zwischen 25 und 26 Jahren alt. Schon im Hof ertönt ein klopfendes Geräusch. Es kommt aus der offenen Werkstatt, wo Sven Berger, eine Schutzbrille über den Augen und das T-Shirt voller Steinstaub, gerade mit Hammer und Meissel einen mannshohen Rorschacher Sandstein bearbeitet. Schlag für Schlag entlockt er ihm eine aparte, schlanke Form. „Ich werde die Skulptur am Steinbildhauersymposium in Morges zeigen“, sagt er und zieht seine Brille aus.
Steingeschichten aus den Tiefen des Bodensees
Ausser ihm arbeiten hier Anna Erdin, der das Haus gehört, und Andreas Lindegger. Das „WG“ steht für Werk- und Wohngemeinschaft. Zu letzterer gehören noch zwei weitere Freunde, der Hund Gin-Gin und seit wenigen Wochen die kleine Nora, das Töchterlein von Anna Erdin und Andreas Lindegger. Die Kleine schläft im Tragetuch, während ihre Mutter erzählt. Anna Erdin stellt unter anderem Ohrringe her aus geschliffenen Kieseln. Sie sammelt oft beim Spazieren Steine. „Flüsse wie der Necker bergen unglaublich schöne Steinschätze, die sie über weite Strecken transportiert haben.“ In der Werkstatt poliert sie diese so lange, bis sie wie Edelsteine glänzen. Sie zeigt auf einen faustgrossen, oval geschliffenen Stein, den sie am Bodensee gefunden hat. Er fühlt sich glatt und kühl an und schimmert in vielerlei Grüntönen, so als erzählte er von den geheimnisvollen Tiefen des Untersees.
Nie gesehene Formen
Im ehemaligen Stall haben die drei Steinkünstler eine Ausstellung eingerichtet. Hier stehen Werke aus rotem Veroneser Knollenkalkstein oder weissem Carrara-Marmor, aus glänzendem Alabaster oder patiniertem Gips. Manche tragen Namen wie Sven Bergers „Tropfen“, bei den meisten steht einfach „freie Form“ auf dem Täfelchen. „Wir wollen nicht von vornherein vorgeben, was jemand sehen soll“, erklärt Andreas Lindegger, „dadurch kann man auch einmal eine nie gesehene Form erkennen.“ Das Schaffen der drei ist nicht allein auf Stein beschränkt, sie arbeiten auch mit Gips, Ton, Stahl und Holz. Ausserdem malt Sven Berger und fertigt Dekorationsobjekte an, so für das St. Galler Kulturlokal Kugl. Besucher sind im Atelier jederzeit willkommen, und an der Bischofszeller Rosenwoche geben die drei mit einem Skulpturengarten Einblick in ihr Schaffen.
Selbst geschmiedetes Werkzeug
Die Bildhauer-WG stellt auf Kundenwunsch Plastiken, Brunnen, Wasserspiele, Gefässe, Vogelbäder, Sitzbänke, Schriftplatten oder Reliefs her. Andreas Lindegger zeigt einen Engel aus schneeweissem Vinschgauer Marmor. „Auch so ein spezielles Grabmal fertige ich gern an“, sagt er. Bei der Suche nach einer Bildhauer-Lehrstelle habe er Einblick in Betriebe erhalten, wo man den ganzen Tag nur Buchstaben aus den Grabsteinen fräse. Er entschied sich deshalb für die vierjährige Ausbildung an der Bildhauerschule Müllheim, wo er Anna Erdin und Sven Berger kennenlernte. Für die grobe Arbeit besitzt auch die Steinbildhauer-WG Fräsen oder Winkelschleifer, doch der weitaus grösste Teil der Arbeit wird von Hand geleistet. „Durch die Handarbeit entsteht ein ganz anderes Verhältnis zum Stein.“
Vielfältige Steine aus der Schweiz
Im Schuppen stehen zwei alte Essen und ein Amboss. Hier schmieden und härten die drei das Werkzeug für die Steinbearbeitung: Zahn-, Rund-, Spitz- und Flacheisen, auf Bestellung auch mal ein Damaszener Messer. Daneben bieten sie Bildhauerkurse an. Das Rohmaterial Stein bezieht die Werkgemeinschaft aus der Schweiz oder dem benachbarten Ausland. Andreas Lindegger zeigt Muster von gelbem Basler Kalkstein, anthrazitfarbenem Kieselkalk, verschiedenen Sandsteinen und Serpentin aus dem Puschlav. Schweizer Stein sei ökologisch, sauber abgebaut und im Endeffekt nicht teurer als etwa chinesischer oder indischer Stein, der unter zum Teil fragwürdigen Bedingungen abgebaut und bearbeitet wurde. „Einheimische Steine passen auch viel besser in unsere Umgebung“, findet Anna Erdin.
In Stein gemeisselt
Ein paar Treppenstufen führen vom Hof auf eine kleine Wiese, wo sich ein lauschiger Sitzplatz befindet. Andreas Lindegger schenkt selbstgemachten Waldmeistersirup ein. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, die Apfelbäume blühen. War die Thurgauer Idylle der Grund, hierher zu ziehen? Die beiden Männer, die in St. Gallen und Flawil aufgewachsen sind, lachen. „Als wir im Februar vor drei Jahren einzogen, war es immer kalt und neblig“, erzählt Sven Berger. „Im Frühling erst merkten wir, wie schön es am See ist.“ Für Anna Erdin, die in Altnau aufgewachsen ist, war das Haus der Grund, sich in Mannenbach niederzulassen. Dann ist der Sirup ausgetrunken, die Nachmittagspause vorbei. Andreas Lindegger sammelt die Gläser ein, Anna Erdin schaukelt die kleine Nora, die mittlerweile aufgewacht ist, und Sven Berger geht zurück in die Werkstätte zu seinem Rorschacher Sandstein. An der Wand stehen die Worte "Das Schicksal mischt die Karten und wir spielen". Sie sind in Stein gemeisselt.
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