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von Klaus Hersche, 22.12.2016

Farewell Claudia!

Farewell Claudia!
Gemeinsame Zeiten prägen: Klaus Hersche, von 2008 bis 2015 Beauftragter der Kulturstiftung, hat lange Jahre mit der scheidenden Stiftungspräsidentin Claudia Rüegg zusammen gearbeitet. | © Kulturstiftung

Eine Abschiedssonate für Piano und Kammerorchester in C-Dur: Auf Ende dieses Jahres verlässt Claudia Rüegg die Kulturstiftung des Kantons Thurgau. Während acht Jahren hat sie das Profil und die Ausstrahlung dieses einzigartigen und wichtigen Förderinstruments wesentlich mitgeprägt. Dies ist der halsbrecherische Versuch eines früheren Mitarbeiters, ihr Wirken in musikalischen Kategorien zu würdigen.

Von Klaus Hersche

I Allegro vivace con brio

Claudia und ich sind gleichzeitig zur Kulturstiftung gestossen. Ich erinnere mich bestens, wie wir uns im Oktober 2008 am Bahnhof von Frauenfeld getroffen haben, um uns gemeinsam zu unserer ersten Stiftungsratssitzung zu begeben. Beide waren wir aus Zürich angereist: sie, als gebürtige Thurgauerin mit ihrem Kanton und seinen Besonderheiten bestens vertraut und ich, der Exilappenzeller, der sich mit dem neuen Umfeld zuerst vertraut machen musste. Mein erster Eindruck hat sich in der Folge bis heute bestätigt: Es war der einer äusserst lebhaften, heiteren und grazilen Frau; einer wachen Zeitgenossin, die mit Schalk und Neugier auf Menschen zugeht und dank ihres scharfen Verstands auch Sachverhalte blitzschnell erfassen kann; einer freien und unabhängigen Künstlerin auch, die ihr Leben selbst bestimmt und an sich selbst die höchsten Anforderungen stellt.

Die ausgebildete Konzertpianistin hatte während ihrer musikalischen Laufbahn gelernt, handwerkliche Disziplin und technisches Können umzusetzen in Musik, nicht nur brillante Läufe und komplexe Akkorde zu reproduzieren, sondern con brio und con grazie klangliche und rhythmische Nuancen umzusetzen in Musik, die schönste und universellste Sprache der Welt.

II Andante moderato

In den folgenden Jahren hat Claudia ihre über die Musik angeeignete Gespür mit viel Engagement und Ernsthaftigkeit eingesetzt zur Umsetzung des Stiftungsauftrags, künstlerische Projekte mit Thurgau Bezug nicht nur mit finanziellen Mitteln zu ermöglichen, sondern auch in administrativen und organisatorischen Belangen zu begleiten und in künstlerischen Fragen Beratung anzubieten. Die Umsetzung dieses Auftrags setzt sowohl für den Stiftungsrat als auch für das Stiftungsbüro den sorgfältigen und kritischen Umgang mit den eingehenden Gesuchen voraus. Dabei ist es seit jeher die Grundhaltung der Thurgauer Kulturstiftung, eher nach guten Gründen für als solchen gegen eine Unterstützung zu suchen.

Ein Bild aus gemeinsamen Zeiten, genauer aus dem Jahr 2008: Claudia Rüegg, damals frisch im Stiftungsrat und der Beauftragte der Stiftung Klaus Hersche. Bild: Archiv

Ihre Erfahrung als freie Kuratorin und ihre Kenntnis des aktuellsten zeitgenössischen Kunstschaffens erlaubten es Claudia, künstlerische Projekte kompetent zu beurteilen. Vielleicht half ihr dabei auch ihr musikalischer Sachverstand, Gesuche wie Partituren zu lesen: als komplexe und vielschichtige Notationen, die erst noch zum Klingen gebracht werden müssen, um zu bestehen. Bisweilen konnte sie ihre Ungeduld und Empörung nicht verbergen, wenn solche Entwürfe liederlich oder anmassend daherkamen. Zugleich treu ihren eigenen Ansprüchen und offen für die Anliegen der Künstlerinnen und Künstler, liess sie sich in der Beurteilung von zwei Grundsätzen leiten: dass Förderung immer auch mit Forderung nach Integrität und Engagement verbunden ist und dass die Förderung von Projekten nicht mit der Geldüberweisung und dem Schlussrapport abgeschlossen ist, sondern künstlerische Weiterentwicklung der Beobachtung und der Begleitung bedarf.

Sie war immer offen für klärende Gespräche

Abgewiesenen - und verständlicherweise enttäuschten -GesuchstellerInnen gegenüber war sie stets offen für klärende Gespräche, wobei allerdings Ausflüchte und Ausfälle vor ihrem Scharfsinn kein Pardon fanden. Als Stiftungsratspräsidentin verlagerten sich die Verpflichtungen von Claudia auf umfangreichere Belange als die Behandlung von Gesuchen. Die Aufgabe, einem Gremium von unterschiedlichen Persönlichkeiten vorzustehen, Leitungsfunktionen zu übernehmen, bei Konflikten vermittelnd einzugreifen, Kompromisse zu suchen und die Stiftung im kulturpolitischen Kontext nach aussen zu vertreten, bedeutete für die freischaffende und unabhängige Künstlerin sicher eine grosse Herausforderung. Aber auch hier mag ihr die musikalische Erfahrung zugutegekommen sein.

Als Präsidentin und chef d'orchestre musste sie hellhörig sein für Zwischentöne, für Takt und Tempi, für beharrliches ostinato wie für zurückhaltendes sostenuto, für geduldiges da capo wie für vorwärtsdrängendes prestissimo. Während meiner siebenjährigen Tätigkeit bei der Kulturstiftung habe ich Claudia nicht nur als respektvolle und aufgeschlossene Vorgesetzte erlebt, die ein offenes Ohr für die internen Belange des Stiftungsbüros hatte, sondern auch als Stiftungspräsidentin, der die Entwicklung und Unabhängigkeit dieser einmaligen Fördereinrichtung ein grosses Anliegen war. Themen wie Förderkriterien, der Umgang mit Gesuchen, die Beziehung zu den Kulturschaffenden, das kulturpolitische Umfeld und die Beziehungen zum nationalen Kontext wurden von ihr in Sitzungen und Retraiten immer wieder auf den Tisch gebracht. Dabei beschäftigte sie stets jene unvermeidliche Gratwanderung, auf der sich jede Kulturförderung befindet: Soll sie sich beschränken auf die möglichst sorgfältige Behandlung von eingehenden Gesuchen und die Wahrnehmung kurzfristiger Bedürfnisse? Oder darf und muss sie auch selbst längerfristig kulturfördernde Massnahmen ergreifen und eigene Projekte anstossen, die den kulturellen Boden beleben?

III Vivace, con fuoco

Für Claudia konnte diese Frage weder mit einem simplen entweder/oder noch mit einem sowohl/als auch beantwortet werden, sondern nur durch die Herstellung von Brücken und gegenseitigen Reibungen zwischen beiden Förderpraktiken. Als Mitbegründerin und langjährige Präsidentin der interdisziplinären Veranstaltungsreihe „forum andere musik" konnte sie zurückgreifen auf konkrete Erfahrungen in der Verknüpfung von Kunstschaffen und kulturellem Umfeld, von Formaten und Inhalten. Mit dieser für den Thurgau einmaligen Initiative wurde der mit allen Sinnen erfahrbare Beweis erbracht, dass Kulturschaffende und ihre Erzeugnisse nur dann Anklang und Wirkung erzielen, wenn sie in einem gastlichen und angemessenen Kontext vermittelt werden.

Claudia Rüegg hat viele neue Formate der Kulturförderung angeregt

Claudia hat einige Leitprinzipien dieses offenen Forums in die Kulturstiftung eingebracht und neue Formate der Kulturförderung angeregt. Es war ein Vergnügen, mit ihr zusammen Pläne zu schmieden, Projekte zu entwickeln und dem zaghaften „Unmöglich!" ein erfrischendes „Wieso nicht?" entgegenzusetzen. Eine der folgenreichsten dieser Initiativen waren zweifellos die fachinternen Debatten, die von Claudia angeregt und massgeblich geprägt wurden. Zwischen Dezember 2010 und Dezember 2011 erörterten auf Einladung der Kulturstiftung Thurgauer Kunstschaffende aller Sparten an verschiedenen Orten brisante Themen und Anliegen. Gibt es eine Thurgauer Kunstszene? Kann man von der Kunst leben? Soll ich hierbleiben oder weggehen? Der Thurgau, ein Kulturkanton? Brauchen wir eine Kulturlobby? – diese Fragestellungen förderten nicht bloss spartenspezifische Bedürfnisse zutage, sondern verhalfen auch zur Einsicht, dass eine starke Kunstszene sich nur entwickeln kann, wenn die einzelnen Akteure nicht nur als einsame Solisten auftreten, sondern ihr Instrumentarium abstimmen und aufeinander hören. Diese Debatten sind nicht nur leere Worte geblieben, sondern haben seither verschiedene „Baustellen" eröffnet: die Werkschau Thurgau, welche in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal in verschiedenen Kunsträumen stattfand, hat nicht nur dem regionalem Kunstschaffen zu mehr Sichtbarkeit und Selbstbewusstsein verholfen, sondern auch sieben eigenständige Kunsträume und KuratorInnen zur Zusammenarbeit vereinigt.

Als Antwort auf das von vielen Kunstschaffenden angemeldete Bedürfnis, ausserhalb der Schweiz Erfahrungen und Inspirationen zu suchen bietet die Kulturstiftung in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt alle vier Jahre ein Atelier in New York an. Und ab kommenden Jahr erhalten Künstlerinnen und Künstler die Möglichkeit zu einem sechsmonatigen Atelieraufenthalt in der serbischen Hauptstadt Belgrad. Initiativen zur Vernetzung in einem dezentralen Kanton sind aus der Zusammenarbeit mit anderen kantonalen Instanzen und Partnern heraus entstanden. Eine aus VertreterInnen von Kulturstiftung, Kulturamt und Kulturkommission zusammengesetzte Arbeitsgruppe entwickelte dazu ein originelles Konzept und lud im Herbst 2015 zur ersten Thurgauer Tauschbörse ein. Hundert Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Bildung, Industrie, Medien, Kultur und Landwirtschaft unterhielten sich in einem Bauernhof über dem Bodensee lebhaft darüber, was für sie „Schaffe" bedeutet. Mit diesen Initiativen hat Claudia nicht nur in der Kulturstiftung, sondern auch im kulturpolitischen Gewebe des Kantons vieles bewegt. Für ihr vernetztes Denken – und das hat nichts zu tun mit politischem Kalkül und Filz! – war es selbstverständlich, Partner zur Kooperation einzuladen, Diskussionen anzuregen, Strukturen aufzubrechen. Da kam im wahrsten Sinn des Wortes mit einem Mal eine andere Musik zum Klingen.

IV Grave ma non troppo (a moll) e Presto

Musik kennt nicht nur harmonischen Wohlklang, sondern ist zuweilen auch geprägt von Dissonanzen. Diese können kompositorisch beabsichtigt sein oder auf interpretatorischem Unvermögen beruhen. Die Pianistin Claudia Rüegg, die sich vor allem mit zeitgenössischer Musik auseinandergesetzt hat, ist mit widerspenstigen Klangwelten bestens vertraut.

Dass Ihr Abschied von der Kulturstiftung aber begleitet wurde von den schrillen Misstönen einer ebenso hinterlistigen wie törichten Intrige gegen die Kulturstiftung und ihre Förderpolitik, das ist – es muss hier mit allem Nachdruck gesagt werden - bedauerlich und widerwärtig! Obwohl diese Kampagne nicht gegen sie als abtretende Präsidentin gerichtet ist, hat sie Claudia, so wie ich sie kenne, sehr betroffen. Nicht aus persönlicher Eitelkeit oder Empfindlichkeit, sondern aus aufrichtiger Sorge um den Bestand der Kulturstiftung und aus Empörung, dass selbst kultivierte Mitbürger sich politisch dazu einspannen lassen, ein so wichtiges wie fragiles Förderinstrument leichtfertig in Bedrängnis zu bringen. Claudia wird sich durch diese unselige Polemik nicht davon abhalten lassen, ihren Weg unbeirrt weiterzugehen und sich mit ihrer Phantasie, ihrem Verstand und ihrer Beharrlichkeit auf neue künstlerische Projekte einzulassen.

Woher sie in den vergangenen Jahren als Musikpädagogin und Stiftungspräsidentin noch die Zeit und die Energie fand, sozusagen „en passant" die Quadriennale der Szenografie in Prag (2015) zu betreuen, in New Delhi eine Musikschule aufzubauen (seit 2012) und sich in Chicago ihr musikalisches Instrumentarium zu erweitern, das bleibt mir ein Rätsel. Aber bei der intellektuellen Unabhängigkeit, der unverwüstlichen Power und Courage dieser wachen Zeitgenossin wundert mich das eigentlich nicht. Ich masse mir nicht an, im Namen anderer zu sprechen, aber ich möchte Freunde und Weggefährten von Claudia dazu einladen, sich meinen besten Wünschen für den Erfolg und das Gelingen ihrer weiteren Pläne und Abenteuer anzuschliessen. Avanti, e presto!

Zum Autor: Klaus Hersche war von 2008 bis 2015 Beauftragter der Kulturstiftung 

Hinweis: thurgaukultur.ch wird von der Kulturstiftung des Kantons unterstützt. Sie ist Aktionärin der thurgau kultur AG

 

KOMMENTARE *

Stefan Keller・2 months ago
Schöner Text, lieber Klaus, vielen Dank. Und allergrössten Dank an Claudia Rüegg für ihre wunderbare Arbeit. Kulturförderung hat immer das Problem, dass sie einen Teil der Gesuche auch ablehnen muss, und dass manche Gesuchsteller dann hässig werden. In diesem Fall (und in früheren Fällen) machten die Enttäuschten eine Kampagne daraus. Gerade solche Kampagnen zeigen eigentlich, dass die Kulturstiftung - zum Leidwesen der Abgewiesenen - eben kein Selbstbedienungsladen ist.

 

Urs Martin • vor 3 Monaten
Sehr geehrter Herr Hersche, dass Sie meine Interpellation im Kantonsparlament als "törichte Intrige" empfinden, spricht Bände und ist Beleg für die Ignoranz der Kulturstiftung, die Sie über Jahre gezüchtet haben. Man ist unter sich, lebt zu 100% von öffentlichen Mitteln und wehrt jede noch so wohldosierte Kritik mit dem Argument ab, man sei gegen Kultur. Für mich heisst Kulturförderung, dass die talentiertesten Kulturschaffenden gefördert werden. Für Sie offenbar, dass kultureller Filz ungestört auf Kosten der Steuerzahler zelebriert wird.
Mit freundlichen Grüssen Urs Martin

 

 

* Seit März 2017 haben wir eine neue Kommentarfunktion. Die alten Kommentare aus DISQUS wurden manuell eingefügt. Bei Fragen dazu melden Sie sich bitte bei sarah.luehty@thurgaukultur.ch

 

 

 

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