von Inka Grabowsky, 22.05.2014
Autorin trifft auf Linguist

Ausgerechnet bei Tanja Kummers leider mässig besuchten Lesung „Alles Gute aus dem Thurgau“ vermittelt der Sprachwissenschaftler Martin Hannes Graf, dass die Thurgauer Mundart in Wirklichkeit nur eine Unterart eines allgemeinen Ostschweizerisch ist. Und das, obwohl Kummer in ihrer Geschichtensammlung ausdrücklich vom Thurgau erzählt und ihre Figuren in heimatlicher Mundart sprechen lässt.
Inka Grabowsky
Höchst erfolgreich ist das Buch der Frauenfelderin, die jetzt in Winterthur lebt. Die erste Auflage von tausend Exemplaren sei innerhalb eines Monats verkauft gewesen, sagt sie stolz bei der Lesung im Refektorium der Pädagogischen Maturitätsschule Kreuzlingen. Von der zweiten Auflage aber ist noch etwas übrig, was sich nach Abschluss der Lesereise der Autorin im Oktober geändert haben sollte. „Auf die Idee zum Buch bin ich am Thunersee gekommen“, erzählt Tanja Kummer. „Ich war für eine Lesung gemeinsam mit zwei Musikern von einem Hotel engagiert, um die Gäste zu unterhalten. Meine beiden Kollegen spielten volkstümliche Musik. Und mir fiel auf, dass ich nichts vortrug, was Bezug zu meiner Heimat hatte. Das wollte ich ändern.“ Die Schriftstellerin recherchierte und fand historisch verbürgte Ereignisse, die sie phantasievoll weiterspann. „Ich habe das Lehrbuch über den Thurgau geschrieben, das ich mir als Kind immer gewünscht habe.“
Teil des Nordostschweizer Blocks
Damit auch alles korrekt zugeht in diesem amüsanten Lehrbuch, hat Tanja Kummer Martin Hannes Graf gebeten, ihre Dialoge gegenzulesen. Graf ist als Autor des Buches „Thurgauer Mundart in Geschichte und Gegenwart“ ein Experte auf dem Gebiet. Viel habe er nicht zu bemängeln gehabt, erzählt er bei der Kreuzlinger Lesung, die passenderweise unter dem Patronat von „thurgauwissenschaft“ stand, dem Netzwerk für Wissenschaft und Forschung im Thurgau. „Eigentlich gibt es keine rein Thurgauer Mundart“, so der Linguist. „Die Sprache am See ist Teil eines Nordostschweizer Blocks, mit einigen thurgauischen Differenzierungen.“ Man könne den Dialekt nur aufgrund weniger Merkmale von anderen Ostschweizer Sprachen unterscheiden: „Das ‚A’ ist etwas heller, das „R“ wird hinten im Rachen gebildet oder gleich ganz zu einem ‚A’ verschliffen.“
Thurgauer Scharnier
Der Vergleich zu andern Deutschschweizer Mundarten fällt leichter. Ostschweizer klingen anders und nutzen andere Worte. Das hat historische Gründe. Anhand der Isoglossen, der Grenzen zwischen zwei Aussprachevarianten, erkennen Wissenschaftler, dass der Bodensee kein trennendes, sondern ein verbindendes Element ist. „Die Schweizer am südlichen Seeufer haben schon im Mittelalter mit den Deutschen im Norden und den Österreichern im Osten zusammengearbeitet.“ Die Wörter und die Betonungen glichen sich nach und nach den Nachbarn an. Der Thurgau fungierte für Modewörter und Aussprachevarianten aus Bayern oder Baden über Jahrhunderte als Scharnier. Auch die deutschen Mägde und Knechte, die sich schon damals gerne im Thurgau verdingten, hatten sprachlichen Einfluss. Das wirkt bis heute nach: „Im Thurgau spricht man das gleich neutrale ‚e’ wie im Standarddeutsch – im Rest der Deutschschweiz ist das ‚ä’ viel weiter verbreitet.“ Beispiele gibt es viele: Thurgauer Worte wie „hoch“ oder „schnäie“ sind dichter am Deutschen als das Restschweizer „höch“ oder „schniie“. Hier spricht man von „Wiese“, dort von „Matte“.
Trend in Richtung Züri-Dütsch
So wie in der Vergangenheit die Thurgauer Wörter aus dem süddeutschen Raum übernommen haben, weil sie tagtäglich mit den Nachbarn zu tun hatten, so dürfte in der Zukunft vermehrt Züri-Dütsch im Thurgau zu hören sein. „Eine Studie weist das nach“, sagt Martin Hannes Graf. „Die vielen Pendler bringen Wörter vom Arbeitsplatz in der Stadt mit nach Hause.“ Urbane Zentren haben eben einen gewissen Snob-Appeal.
Unbegründetes Missfallen
In Listen der beliebtesten Schweizer Dialekte rangiert Thurgauisch üblicherweise auf den hinteren Plätzen. Sachliche Gründe, Ostschweizerisch gering zu schätzen, kennt der Experte nicht. „Ich gehe von einer gelernten Rückkopplung aus. Man lehnt etwas ab, was traditionsgemäss immer abgelehnt wurde“, meint der Sprachwissenschaftler. Die Menschen verbänden dann etwas Positives mit einer Sprache, wenn sie sie in angenehmen Situationen hören würden. „Das Berner Oberland mit seinen Feriengebieten hat da einen grossen Vorteil.“ Ausserdem gebe es in kaum einem anderen Dialekt so viele Lieder und eine so grosse Produktivität der Mundartliteratur wie im Berndeutschen. Die Thurgauer Mundart sei dagegen eine absolute Exotin. „Lange Zeit gab es auch im Fernsehen oder Radio kaum Ostschweizer – das hat sich jetzt verändert, sodass der Ostschweizer Dialekt bekannter wird und gleichzeitig sympathischer wirkt.“
***
PORTRAIT: Für Tanja Kummer kommt "alles Gute aus dem Thurgau"
Tour de Thurgovie
Tanja Kummer macht mit ihrem Buch noch eine veritable „Tour de Thurgovie“. Die Lesungen schmücken sich jeweils mit einer zweiten Attraktion: In Frauenfeld am 18.6. mit einer Vorstellung des Thurgauer Kochbuchs und einem Buffet, in Arbon am 27.6. mit einer Führung durch die Mosterei Möhl mit Apero. In Nussbaumen am 6. September liest Tanja Kummer um 17 Uhr im Rahmen des Saxer Weinfest im Degustierstübli, in Tägerwilen am 25. September nach einer Führung durch die Biotta und vor einem Apero. Und zum Abschluss der Lesereise am 17. Oktober im Stelzenhof in Weinfelden gibt es Kostproben aus „Alles Gute aus dem Thurgau“ zwischen den Gängen eines Menüs. (inka)

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