von Judith Schuck, 13.02.2024
Aufklärung durch Theater
Beim Forumtheater kann das Publikum aktiv in die Geschichte eingreifen. Das Theater Bilitz wendet die Methode jetzt bei einem heiklen Thema an – sexuelle Grenzübertritte. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
„Wir wissen, dass unter euch Jugendlichen einige zuschauen, die davon überhaupt nichts wissen wollen“, sagt Julius Griesenberg provokativ zu den rund 40 Schüler:innen der Sekundarschule Bürglen, die am Morgen des 6. Februar ins Theaterhaus Thurgau nach Weinfelden gekommen sind, um an einem sogenannten Try Out teilzunehmen. So nennen Theaterleute eine Aufführung vor der eigentlichen Premiere, bei der sie verschiedene Dinge noch ausprobieren wollen.
„Und möglicherweise gibt es welche unter euch, die schon mal von jemandem angefasst wurden, obwohl sie das nicht wollten; vielleicht an den Haaren, dem Po, der Brust“, fährt Sonia Diaz fort. Griesenberg spielt im Stück „No Limits?!“ einen schwulen Sportlehrer, Diaz eine Jugendanwältin und Mutter eines pubertierenden Sohnes. Agnes Caduff tritt als Schulleiterin auf. Allen Dreien brennt ein Thema unter den Nägeln: sexualisierte Gewalt.
Irritationsmoment steht am Anfang
Dass sich die Schauspieler:innen zu Beginn des Stücks direkt an ihr Publikum wenden, sorgt für Irritation. Die vierte Wand wird aufgebrochen, wie noch häufig im Verlaufe des Vormittags. Es ist eine Woche vor der Premiere, und das erste Mal, dass die Theatermacher:innen einen Durchgang mit Zuschauer:innen proben.
Bevor die Neuntklässler den Theatersaal betreten, ist die Anspannung bei Akteur:innen sowie dem künstlerischen Leiter Roland Lötscher zu spüren. Die leeren Ränge werden gleich gefüllt sein. Wie werden die Jugendlichen und ihre Lehrpersonen reagieren? Das Ziel an diesem Vormittag: Die Theaterschaffenden erhoffen sich Feedback, wollen in Interaktion treten, austesten, was sie in den vergangenen Wochen zusammen mit der Theaterpädagogin Dunja Tonnemacher und der Psychologin Barbara Dudli Valmadre erarbeitet haben.
Publikum kann mitbestimmen
Die Interaktion mit dem Publikum ist im Fall von „No Limits?!“ besonders zentral, denn es wurde nach der Methode des Forumtheaters konzipiert. Bereits seit 20 Jahren bringt Roland Lötscher mit dem von ihm gegründeten Theater Bilitz ein Forumtheaterstück auf die Bühne. Mit S.O.S. produzierte er zuletzt im Jahr 2020 eines zum Thema Depressionen bei Jugendlichen.
Beim Forumtheater wird das Publikum ins Stück miteinbezogen und kann in den Verlauf der Geschichte eingreifen. Meist geht es um Konfliktszenen, welche die Schauspieler:innen mit den Zuschauer:innen besprechen oder nachspielen. Gemeinsam suchen die Anwesenden nach Lösungen.
Wie die Methode entstanden ist
Der brasilianische Theaterpädagoge Augusto Boal entwickelte die Methode in den 1970er Jahren, um benachteiligte Gruppen zu ermächtigen, ihre Ziele und Interessen durchzusetzen. Das Forumtheater ist eine Methode des „Theater der Unterdrückten“, welches die Gesellschaft für die Themen der Schwachen sensibilisieren soll und diese aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, um so nachhaltig mögliche Lösungen für den Konflikt zu erarbeiten.
Da sexualisierte Gewalt gerade bei Teenagern ein heikles und mit Scham behaftetes Thema ist, wird bei No Limits!? darauf verzichtet, die Jugendlichen auf die Bühne zu holen. Die Szenen, die entweder live gespielt oder als Videosequenz gezeigt werden, sollen mit roten und grünen Karten bewertet oder in Kleingruppen besprochen werden. Ausserdem können sich die Anwesenden im offenen Gespräch mit den Darsteller:innen über das Gesehene austauschen.
Ab wann wird aus einem „Ja“ ein „Nein“?
Zum Beispiel über ein Video, in dem junge Schauspieler:innen im Jugendtreff Weinfelden eine Party nachspielen. Die Szene wird vom Publikum als durchaus realistisch eingeschätzt und erfüllt so ihren Zweck: Die Anwesenden sollen sich mit den Geschehnissen und Figuren identifizieren können. „Wir wollen die Jugendlichen in ihrem Alltag abholen“, sagt Theaterpädagogin Dunja Tonnemacher. Sie brachte die Idee für den Stoff mit. Eine befreundete Schulsozialarbeiterin erzählte ihr, wie wichtig es sei, besser über sexualisierte Gewalt aufzuklären – ein Riesenfeld, bei dem sich No Limits!? auch eingrenzen muss.
Die Kamera fokussiert unterschiedliche Situationen beim Tanzen oder Knutschen auf der Couch, bei denen die Schüler:innen mit Hilfe der Zeigekarten ihre Sicht mitteilen können: Ist die Berührung für das Mädchen noch okay? Kippt der Annäherungsversuch des Jungen im Verlauf ins Unbehagliche? Wo besteht Konsens, wo wird es übergriffig?
Die Meinungen oder besser momentanen Empfindungen der Mädchen und Jungen im Publikum driften hier auseinander, und die Schauspieler:innen vermitteln ihnen auch immer wieder, dass das vollkommen in Ordnung sei. Es gehe nicht um richtig oder falsch, es werde keine Aussage oder Reaktion bewertet, es gehe um ihre Wahrnehmung.
Pornos zeigen keinen realen Sex
Carolin, wie sie das Mädchen im Film nennen, habe durch ihre Körperhaltung und ihren Gesichtsausdruck gezeigt, dass ihr die Berührungen ab einem bestimmten Punkt zu viel wurden, sagt ein Junge. „Aber sie hat ja nichts gesagt“, rechtfertigt sich Thomas, der den übergriffigen Jungen spielte, nachher bei einer Video-Befragung. Ausserdem sei er ein Mann, und Männer müssten schliesslich die Initiative ergreifen.
Es sind aber nicht nur körperliche Handlungen, auf die im Stück Bezug genommen wird: Homophobie, Sexting, Body Shaming und die Strafbarkeit bei der Verbreitung von pornografischem Material kommen zur Sprache. Eine Schülerin wünscht sich, dass im Stück noch stärker betont werde, dass Pornos keine Anleitung für realen Sex seien.
Agnes Caduff stimmt dem zu: vielmehr seien viele Jugendliche verunsichert, weil sie denken, so müsse Sex sein, „dabei geht es im normalen Porno oft um Macht und Gewalt.“
Sich zu öffnen, kostet Überwindung
Eine Lehrperson findet es zudem wichtig, noch mal klar herauszuschälen, wie schnell sich die Jugendlichen strafbar machen, wenn sie pornografisches Material herumschicken und an unter 16-Jährige weiterleiten und was die realen Konsequenzen für dieses oft unüberlegte Tun sein können. Die Lehrpersonen betonen ausserdem gegenüber den Theaterleuten, wie viel Mut es den Grossteil der Jugendlichen koste, sich zu diesen Themen offen zu äussern. Die Schauspieler:innen sind sich dessen bewusst, ebenso wie sie sich trotz der festen Abläufe im Stück immer wieder auf ein völlig anderes Publikum einstellen müssen.
„Dazu braucht es auch eine gewisse Erfahrung“, sagt Roland Lötscher. Interaktionen müssten situativ angepasst werden, den Fragen gegebenenfalls eine andere Tiefe verliehen werden. Gleichzeitig ist Agnes Caduff überzeugt, dass es mit den Jugendlichen auch etwas macht, wenn sie ihre Meinung im Theater äussern. Es sei eine Erfahrung, die ihnen Respekt verleihe.
Wertvoller Zugang zum Thema
Bei der Feedbackrunde sind sich die meisten Schüler:innen einig, dass ihnen diese Art des Theaters einen wertvollen Zugang zum Thema sexualisierte Gewalt eröffnet hat.
Premiere ist am 13. Februar um 19:15 Uhr im Theaterhaus Thurgau, wo es am selben Tag und am 14. Februar jeweils um 9:45 Uhr Schulvorstellungen gibt. Danach geht das Stück auf Tour. Empfohlen ist "No Limits?!" für alle ab 13 Jahren.
Von Judith Schuck
Weitere Beiträge von Judith Schuck
- Dem Blick ausgeliefert (23.09.2024)
- Kunst als Form der Therapie (19.09.2024)
- Bin ich gut genug? (09.09.2024)
- Sparen auf Kosten der Kultur (26.08.2024)
- Noch mehr Kunst für Frauenfeld (17.07.2024)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Bühne
Kommt vor in diesen Interessen
- Vorschau
- Schauspiel
- Jugendliche
Kulturplatz-Einträge
Ähnliche Beiträge
Walter Andreas Müller schlüpft in die Rolle des Papstes
Gelegenheit macht Diebe: Wieso also nicht den Papst persönlich kidnappen? arttv.ch war bei den Schlossfestspielen Hagenwil. mehr
Auf der Suche nach Adolf Dietrich
Der Regisseur und Stückeschreiber Oliver Kühn erweckt den Künstler Adolf Dietrich mit seinem «Theater Jetzt» in Berlingen zu neuem Leben. mehr
Kindermärchen in Schloss Hagenwil
«Hänsel und Gretel» muss nicht so grausam sein, wie von den Brüdern Grimm aufgeschrieben. Bei den Schlossfestspielen hat Regisseur Florian Rexer die Geschichte behutsam modernisiert und entstaubt. mehr