von Brigitta Hochuli, 24.01.2012
Der andere Dürrenmatt

Der Thurgauer Dürrenmatt-Biograph Peter Rüedi liest heute Donnerstag im Bodman-Literaturhaus in Gottlieben. Ein paar Fragen jenseits der Germanistik.
Interview: Brigitta Hochuli
Herr Rüedi, Sie sind in Arbon aufgewachsen, haben die Matura in Frauenfeld absolviert und waren Gründungsmitglied der Kulturstiftung des Kantons Thurgau, die unter anderem das Bodman-Haus in Gottlieben mit initiiert hat. Haben wir es diesen frühen Bindungen zu verdanken, dass Sie mit Ihrem grossen Dürrenmatt-Buch hier lesen oder wären Sie auch sonst aus dem Tessin angereist?
Peter Rüedi: Natürlich fühle ich mich meinem Heimatkanton verpflichtet, der mich ganz zu Beginn meiner Arbeit auch mit einem Werkjahr unterstützt hat. Aber die Lesung in Gottlieben ist mehr als eine Pflichtübung. Meine Verbindungen zum Thurgau sind nie abgerissen, oder sagen wir: zum Bodenseeraum. Im übrigen habe ich die Erfahrung gemacht, dass man an den Rändern oft einem aufmerksameren Publikum begegnet als in den Zentren. So ist mir die Reise von einem Rand der Schweiz an den andern ein Vergnügen.
Dieses Publikum in Gottlieben stammt in der Regel zur Mehrheit aus dem angrenzenden Nachbarland und hat zu Dürrenmatt mutmasslich ein weniger inniges Verhältnis als wir Schweizer. Erwarten Sie, dass es die 960 Seiten Ihrer Biographie gelesen hat?
Peter Rüedi: Dürrenmatt ist das, was man einen "Weltautor" nennt. Ich denke, dass sich die literarische Wahrnehmung beim Überschreiten der Grenze so wenig verändert wie die Farbe des Himmels. Die Schwierigkeiten, die mein Buch deutschen Lesern bereiten mag, sind die, die es Schweizern zumutet. Ein Grund, Veranstaltungen wie jene in Gottlieben zu besuchen, ist doch auch die Neugier, etwas zu erfahren, was man noch nicht kennt. So gesehen ist eine Lesung wie eine Rezension: im Idealfall eine Anregung, sich mit einem bis dahin unbekannten Buch weiter zu beschäftigen.
Stichwort Rezension. Die journalistischen Kritiken der Dürrenmatt-Biographie waren mehrheitlich positiv. Unterscheiden sie sich von den Reaktionen der quasi privaten Leserinnen und Leser?
Peter Rüedi: Entscheidend ist, von der schmeichelhaften Befriedigung der Autoreneitelkeit einmal abgesehen, nicht, ob ein Buch positive oder negative Reaktionen auslöst - oder alle Arten von vermischten. Wichtig ist, dass es überhaupt ein Echo findet. Ich kann mich nicht beklagen, weder über die veröffentlichten Meinungen über mein Buch noch über die vielen persönlichen Zuschriften. In denen versichern mir viele, sie hätten einen andern Dürrenmatt kennen gelernt als den, den sie als "Klassiker der Moderne" in Erinnerung hatten.
Was werden Sie aus der Biographie dieses vermeintlichen Klassikers in Gottlieben herausgreifen und warum genau dieses?
Peter Rüedi: Ich werde ein Stück aus dem ersten und eins aus dem letzten Kapitel lesen - weil diese in der gebotenen Kürze am ehesten ohne Voraussetzungen verständlich sind.
Ihr Buch mit insgesamt 15 Kapiteln heisst „Dürrenmatt oder die Ahnung vom Ganzen“. Das impliziert, dass es so etwas wie ein philosophisches Ganzes geben könnte. Hatte Dürrenmatt jemals ein solches Ganzes im Auge?
Peter Rüedi: Die Antwort auf diese Frage ist mein Buch insgesamt. Dürrenmatt kam es immer auf den Zusammenhang an, mehr als auf das einzelne Werk. Und insgesamt eben um eine "Ahnung vom Ganzen". im Zentrum dieses Universalismus steht aber eben die Einsicht, dass menschliche Erkenntnis grundsätzlich scheitern muss, dass allenfalls ein bewusster Dilettantismus noch eine "Welt-Sicht" ermöglicht. Das ist eines der vielen Paradoxe bei Dürrenmatt: es ging ihm ums Ganze, und er wusste, dass es sich ihm allenfalls als Ahnung offenbarte.
A propos Ganzes. Die Biographie reicht nicht ganz bis zum „ganzen“ Dürrenmatt. Wann kommt ein zweiter Band?
Peter Rüedi: Mein Buch ist in gewisser Hinsicht eine "bifokale" Angelegenheit: einerseits folgt es einer Chronologie, die Ende der fünfziger Jahre abbricht und natürlich nach einer Fortsetzung ruft. Anderseits befasst es sich in thematischen Kapiteln immer auch mit dem ganzen Dürrenmatt, klammert also das Spätwerk keineswegs ganz aus. Einen zweiten Band möchte ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder versprechen noch ausschliessen.
Wie ist das eigentlich? Wenn man sich mit so gewaltigen „Stoffen“, wie sie Dürrenmatts Werke ja alle sind, beschäftigt - verändert das einen? Sprachlich, im Denken oder im Fühlen?
Peter Rüedi: Zweifellos verändert die Beschäftigung mit einem so vielfältigen Kosmos auch den, der versucht, sich darin zurechtzufinden. In gewisser Hinsicht war die Arbeit an diesem Buch so etwas wie ein "studium generale". Aber ich denke schon, dass ich mir dabei nicht ganz abhanden gekommen bin. Wäre ja auch fatal, ein solcher vampirischer Effekt.
Herr Rüedi, Sie haben sich scheint‘s 20 Jahre lang an „Dürrenmatt“ abgearbeitet. Nun gibt es Fotos, auf denen Sie F.D. gleichen, obwohl Sie viel schmaler sind als er und sich selber ja nicht „abhanden gekommen“ sind, wie sie sagen. Man kennt das auch sonst von langjährigen Beziehungen, dass sich Menschen mit der Zeit zu ähneln beginnen. Wie erklären Sie sich diesen Eindruck?
Peter Rüedi: Ein Brillenträger gleicht dem andern. So schmeichelhaft es für mich wäre - beim Blick in den Spiegel kann ich keine Anverwandlungen erkennen, und beim Blick in Dürrenmatts Literatur begegne ich mir selbst wie bei der Lektüre jeder Literatur, die diesen Namen verdient. Da unterscheidet sich die Lektüre von Kleist nicht von der Kafkas, Döblins, Thomas Bernhards oder Jürg Laederachs. Im übrigen wurde die Arbeit oft unterbrochen. Dass ich zwanzig Jahre an diesem Projekt gesessen hätte, ist Unsinn.
***
Peter Rüedi
Peter Rüedi wuchs nach früher Kindheit in Mailand und Como in Arbon auf. Nach der Matura in Frauenfeld studierte er ab 1961 Germanistik an der Universität Basel. 1966 wurde er Redaktor bei der Zürcher Woche bzw. deren Sonntags-Journal (1968–72). 1974 wurde er Ressortleiter Kultur bei der Weltwoche. 1980 wechselte er aus dem Journalismus, um bis 1982 als Dramaturg in Berlin am Schillertheater tätig zu sein. Zwischen 1982 und 1989 war er Chefdramaturg am Schauspielhaus Zürich. Danach arbeitete Rüedi vorwiegend für die Weltwoche. 1990 war er Mitbegründer der Kulturstiftung des Kantons Thurgau, deren Stiftungsrat er bis 1999 angehörte. Im Weiteren war er zwischen 1985 und 1997 Stiftungsrat der Schweizerischen Kulturstiftung Pro Helvetia. Rüedi lebt in Tremona (TI). (wiki)
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Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen. Biographie. Diogenes, Zürich 2011, ISBN 978-3-257-06797-2.
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Die Lesung am Donnerstag, 26. Januar, 20 Uhr, wird moderiert vom neuen Programmleiter des Bodman-Literaturhauses, Stefan Keller. Keller macht auch auf ein Gespräch über Literaturkritk aufmerksam, das 1995 zwischen Dürrenmatt, dem Germanisten Hans Mayer und dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki im Schweizer Fernsehen geführt worden ist. Eine Episode aus diesem Gespräch, die Dürrenmatt an „Nero beim Brande Roms“ erinnert, haben wir ein Video von You Tube ins oben geführte Interview eingebettet.

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