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von Brigitta Hochuli, 25.01.2012

Asyl im Schiesser-Shop

Asyl im Schiesser-Shop
Jean Grädel und der leerstehende Schiesser-Shop in Kreuzlingen. Hier wird das neue Stück des Freien Theaters Thurgau aufgeführt. | © cf/ho

Das Freie Theater Thurgau findet mit seinem neuen Stück Obdach in einem leeren Kreuzlinger Fabrikladen. Eine Groteske um Migration und Integration.

Brigitta Hochuli

Zurzeit nimmt Theaterleiter und Regisseur Jean Grädel die Dispositionen vor. Bis zur Premiere des Stücks „Hereinspaziert“ am 12. April müssen die Szenenvorschläge von Autor Peter Höner diskutiert, die Rollen definitiv verteilt, die Proben vorbereitet und die Finanzen gesichert werden. Einiges an Vorbereitung ist aber schon geleistet. So haben sich Regisseur und Autor mit der Stadt Kreuzlingen und ihrem Ausländerüberschuss von knapp über 50 Prozent intensiv befasst und sich unter anderem mit Mitgliedern des Ausländerrates einen Abend lang über deren Befindlichkeit unterhalten.

Spiel aus Distanz

Jean Grädel zeigt sich im Gespräch bestens informiert. Nichts soll im neuen Stück des Freien Theaters Thurgau ausgeblendet werden. Weder der Unmut der Bevölkerung gegenüber sogenannt renitenten Asylbewerbern aus dem Empfangszentrum des Bundes, noch die schwierigen Bedingungen, die sie dort oder anderswo in der Schweiz vorfinden. Weder schweizerische Vorurteile gegenüber dem Fremden generell, noch das weitgehend unbelastete Zusammenleben der Kreuzlinger mit ihren alteingesessenen ausländischen Mitbürgern. Weder die Liebe dieser Mitbürger zur Kleinstadt am See, noch deren auch nach Jahren längst nicht überall geglückte Integration.

Was Grädel und Höner vermeiden wollen, ist jede Art von Hatz oder Sozialromantik. „Ich hätte gern ein weniger heikles Thema gefunden“, schreibt Peter Höner in seinem Exposé. „Ich wollte mir nicht die Finger verbrennen an einem Problem, über das seit Jahren gestritten wird.“ Damit niemand Blessuren davonträgt, soll aus dem Stoff nun eine komödiantische Groteske werden. „Eine Zustandsbeschreibung aus Distanz, ohne Druck auf die Tränendrüsen und bar jeder Sozialromantik“, wie Grädel sagt.

Im Stück wird gekocht. Die Zuschauer sollen die unterschiedlichen Vorlieben der Nationalitäten zu riechen bekommen. Es agieren in der Küche eine durchschnittliche Schweizer Familie sowie Kreuzlinger aus Italien, Spanien, Frankreich, den Philippinen, aus Iran oder Deutschland. Und es erzählen mit den Stimmen der Schauspieler Menschen aus Afrika, Sri Lanka oder Georgien über ihre Flucht und die späteren Erfahrungen im vermeintlich gelobten Land.

Ort als Konzept

Gespielt werden die Köche, Gastgeber und Gäste von Laiendarstellern aus Kreuzlingen und von Professionellen wie Annette Kuhn, Uwe Schuran und Markus Keller. Noch sind nicht alle Schauspieler gefunden. Offen ist auch, ob für eine Live-Musik von Daniel R. Schneider genügend Ressourcen vorhanden sein werden. Bis heute sind von der Kulturstiftung des Kantons Thurgau, von der Stadt Kreuzlingen und dem Verein Kultursee erst 78‘000 Franken zugesichert. Zu entwickeln ist auch die Handlung im Stück. Zusammen mit den Schauspielern werden Jean Grädel und Peter Höner Szene um Szene erarbeiten. Was feststeht, ist der Aufführungsort im leerstehenden Schiesser-Shop an der Hafenstrasse in Kreuzlingen. Hier soll ab März zudem für drei Monate wöchentlich ein Kulturtreff organisiert werden - als Versuchsbetrieb für ein allenfalls künftiges Kulturzentrum im umliegenden Areal.

Zum Konzept des Freien Theaters Thurgau gehört seit der Gründung vor vier Jahren die Koproduktion. Diese erfolgt beim aktuellen Stück mit der Stadt Kreuzlingen, dem VorStadttheater Frauenfeld und dem Theaterhaus Thurgau in Weinfelden. Zum Konzept des Freien Theaters gehört aber auch die Auseinandersetzung mit einem Ort im Thurgau. Nicht nur in Sachen Ausländeranteil, auch diesbezüglich ist Kreuzlingen die Pionierstadt.

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Jean Grädel - 12 Jahre Kulturstiftung

Am Dienstag hat der 69-jährige Jean Grädel nach 12 Jahren im „Goldenen Kreuz“ in Frauenfeld seine letzte Sitzung als Stiftungsrat der Kulturstiftung des Kantons Thurgau absolviert. Es war kein Rücktritt. Die Satzung sieht es so vor. „Schade“, sagt Jean Grädel. Er wäre gerne länger geblieben. Er hat Freundschaften geschlossen und über sein eigenes Fachgebiet als Theatermann hinaus viel gelernt. Zum Beispiel über visuelle Kunst oder darüber, wie man kontrovers und trotzdem konstruktiv miteinander diskutiert.

Als nachhaltig befriedigend bezeichnet Grädel die Etablierung von jazz:now oder tanztheater:now. Problematisch findet er für kulturschaffende Stiftungsmitglieder nach wie vor ihre Situation als Gesuchsteller und gleichzeitig Prüfungsinstanz. Die Jahre, als diese Doppelfunktion in der öffentlichen Kritik war, empfindet er noch heute als die bedrückendsten. Aber das Problem sei nicht vom Tisch, da es in der Kulturstiftung bildende Künstler, Musiker, Theaterschaffende oder Autoren nach wie vor gebe und brauche.

Bei aller Wehmut, die 12 Jahre Kulturstiftung bedeuteten auch viel Arbeit. Für Mitglieder des Leitenden Ausschusses gebe es neben den 12 bezahlten Sitzungen pro Jahr das Dossierstudium, das gut und gerne bis zu einem Tag pro Sitzung dauere, erklärt Jean Grädel. Selbstverständlich sei auch die Teilnahme an den relevanten kulturellen Veranstaltungen im Thurgau. Dafür hat er weder Spesen noch Zeitaufwand gescheut. Sein Nachfolger im Stiftungsrat ist übrigens Peter Höner, der das Theater-Fachwissen Grädels nun weiter garantieren kann. (ho)

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Peter Höner

Der im Kanton Zürich aufgewachsene Peter Höner (64) wohnt seit 2004 in einem alten Weinbauernhaus auf dem Thurgauer Iselisberg. Er ist seit 1981 freischaffender Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur. Zahlreiche seiner Theaterstücke wurden an deutschen Theatern aufgeführt. Seine Romane heissen „Seifengold“, „Das Elefantengrab“, „Wiener Walzer“, „Am Abend, als es kühler ward“ und „Gynt“ (2011). (red.)

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