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von SAITEN, 24.01.2014

«Der Film nimmt Partei für Grüninger»

«Der Film nimmt Partei für Grüninger»
„Akte Grüninger“. | © Filmbild saiten.ch

«Akte Grüninger» eröffnet die Solothurner Filmtage. Wie genau nimmt es der Spielfilm mit den Fakten um die Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg? Der Thurgauer Historiker und Autor von "Grüningers Fall" Stefan Keller gibt Antwort.

Interview: Peter Surber*

Letztes Jahr Theaterstoff in der St.Galler Lokremise, jetzt Held eines vom Schweizer Fernsehen mitproduzierten Spielfilms: Paul Grüninger, der St.Galler Polizeikommandant und Flüchtlingshelfer, wird nach der politischen Rehabilitation auch künstlerisch besichtigt. Regisseur Alain Gsponer hat «Akte Grüninger» mit Stefan Kurt in der Hauptrolle teils an Originalschauplätzen im Rheintal gedreht, nimmt sich aber auch filmische Freiheiten heraus – und hat damit bereits Kritik provoziert.

Vorab in der «Weltwoche»: Sie wirft den Filmautoren «offenkundige Einseitigkeit» vor. Die offizielle Schweizer Flüchtlingspolitik werde zu negativ dargestellt, die im Film genannte Zahl abgewiesener Flüchtlinge sei zu hoch und entspreche nicht dem heutigen Wissensstand. Wir fragen nach bei Stefan Keller; der Thurgauer Historiker und Autor des Buchs «Grüningers Fall» (1993) war als Fachexperte am Film mitbeteiligt.

*

Herr Keller, «Akte Grüninger» wird kritisiert: Der Film verfälsche einzelne Fakten und Figuren.

Stefan Keller: Es gibt Kritik, aber auch viel Lob für den Film. Zur Kritik: Erstens ist das Thema (die Figur Grüninger und die Flüchtlingspolitik während der Nazizeit insgesamt) so gross und facettenreich, dass ich als Grüninger-Experte nicht den Hauswart spielen und zum Rechten schauen will, was man «darf» und was nicht. Zum andern: Ein Spielfilm ist ein Spielfilm – er folgt zum Teil anderen Gesetzen als ein Dokumentarfilm.

Zum Beispiel?

Stefan Keller: Zum Beispiel die erfundene Figur des Ermittlers Max Frei (Max Simonischek). Diese Figur, die sich im Lauf des Films innerlich wandelt: Solche Figuren braucht das Kino oder meint sie zu brauchen. Ich war darüber nicht besonders glücklich, es kommt dadurch eine andere Optik in die Geschichte. In meinem Buch und in Richard Dindos Dokumentarfilm haben wir den Fall Grüninger von den Flüchtlingen her erzählt, aus der Perspektive der «kleinen Leute». Hier wird sie nun wieder aus der Sicht der Beamten aufgerollt. Für Dindo und für mich waren die Zeitzeugen entscheidend, die Überlebenden, die inzwischen leider fast alle gestorben sind.

Kritisiert wird auch, dass Heinrich Rothmund, der Chef der Fremdenpolizei (gespielt von Robert Hunger-Bühler) zu negativ dargestellt sei.

Stefan Keller: Das sehe ich nicht so. Die Kritik richtet sich darauf, dass Rothmund im Film unterstellt wird, er habe den Judenstempel «erfunden». Tatsächlich war Rothmund als höchster Beamter für die antisemitische Flüchtlingspolitik verantwortlich. Er hat sich 1938 für ein Visum für alle Deutschen eingesetzt, Juden sollten dann auf den Schweizer Konsulaten einen Arierausweis vorlegen – das wäre in der Sache auf dasselbe herausgelaufen. Rothmund wollte die «Verjudung» der Schweiz bekämpfen.

Und die angeblich im Film zu hoch angesetzten Flüchtlingszahlen?

Stefan Keller: Es gibt unterschiedliche Zahlen, alles sind Schätzungen. Jene im Film beruht auf einer aufwendigen Untersuchung des Schweizerischen Bundesarchivs. Aber die genaue Zahl wird man nie wissen. Es sass ja kein Buchhalter an der Grenze und hat die abgewiesenen Flüchtlinge gezählt. Die Grenzbehörden haben täglich Flüchtlinge zurückgeschickt und sehr oft, ohne die Fälle zu protokollieren. Deshalb ist das Feilschen um die genaue Zahl der Abgewiesenen grotesk und unwürdig. Jeder einzelne Fall war einer zuviel. Was die Kritiker ärgert: Der Film nimmt Partei gegen die Schweizer Politik, für die Flüchtlinge und für den Flüchtlingshelfer Paul Grüninger.

***

* Peter Surber ist Redaktor des Ostschweizer Kulturmagazins Saiten.

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