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von Inka Grabowsky, 07.03.2024

Die 36-Stunden-Revolution

Die 36-Stunden-Revolution
Sah so der Ittinger Sturm aus? So stellte sich jedenfalls Heinrich Thomann 1605 das Ganze vor. Die Brandstiftung kam nach dem Massenbesäufnis. | © zVg

Der «Ittinger Sturm» jährt sich zum 500. Mal. Acht Ostschweizer Kulturakteure widmen sich jetzt aus verschiedenen Perspektiven diesem aufsehenerregenden Ereignis aus dem Jahr 1524 in der Kartause Ittingen. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Ein Sommer vor 500 Jahren: Der im Schloss Frauenfeld sitzende, katholische Landvogt hatte in Stein am Rhein einen reformierten Pfarrer gefangen nehmen lassen. Dieser wurde nach Frauenfeld verbracht. Schnell rotteten sich mehrere tausend Menschen zusammen, um den Priester zu befreien.

Erst die Thur stoppte die aufgebrachte Menge, ein Weiterziehen nach Frauenfeld war zunächst nicht möglich. Nach einer im Freien verbrachten Nacht geriet die wilde Gemeinschaft „ausser Kontrolle“, wie es noch heute auf der Website der Kartause Ittingen heisst.  Die Menschen stürmten die Kartause, verpflegten sich im Weinkeller und plötzlich brannten die Gebäude. Der Schaden war immens. Die eidgenössische Tagsatzung in Baden verurteilte die drei Rädelsführer schliesslich zum Tode.

Der Anfang für einen langen Konflikt

«Der Ittinger Sturm ist der Anfang, der symbolische Auftakt, für einen langen Konflikt in der Eidgenossenschaft, der erst 1847 nach dem Sonderbundskrieg ausgeräumt wurde. Deshalb reden wir heute noch davon.» Der Kunsthistoriker Felix Ackermann ist von der Bedeutung des kurzen Aufstands von etwa 3000 Personen am 18. und 19. Juli 1524 gegen die althergebrachte Ordnung überzeugt. 

Um dem im Jubiläumsjahr Rechnung zu tragen, haben sich auf Anregung des früheren Ittinger Direktors Markus Landert die Kartause, das tecum, die evangelische und die katholische Landeskirche Thurgau, das Steiner Kulturhaus Obere Stube, das Museum Kloster Sankt Georgen, das Museum Stammertal und die reformierte Kirche Stammheim zusammengetan. 

 

Felix Ackermann sieht gute Gründe, noch heute über den Ittinger Sturm nachzudenken. Bild: Inka Grabowsky

Historisches im Kunstmuseum

Das Kunstmuseum stellt für die historische Ausstellung in Ittingen den grossen ehemaligen Weinkeller zur Verfügung – quasi «den Tatort», wie Felix Ackermann sagt. Das Kunstwerk am Boden, die «Verstummte Bibliothek» von Joseph Kosuth, wird ab 21. April für ein Jahr die Basis für die Ausstellungsinseln werden. 

«Dieser 350 Quadratmeter grosse Raum ist tatsächlich gut geeignet», so der jetzige Museumsdirektor Peter Stohler. «Mit Licht kann man hier viele Stimmungen erzeugen.» Um nicht nur den Augen, sondern auch den Ohren etwas zu bieten, hat Kurator Ackermann eine rund dreissigminütige Radioreportage geschrieben. Der Schauspieler Markus Keller gibt den fiktiven Reporter, der distanziert beschreibt, was beim Ittinger Sturm gerade abläuft. 

An sieben Stationen im Raum wird die Anatomie des Ereignisses ergründet. «Wir richten die Lupe auf das Chaos und können manches erklären», so Ackermann. «Wenn Mönchen ihre Kutten genommen werden, ist das ein starkes Symbol. Und es war auch kein Zufall, dass das Archiv zerstört wurde. Da lagen Urkunden, die die Herrschaft des Klosters über die Menschen begründeten.» 

 

Gemeinsamer Einsatz für die Erinnerung an den Ittinger Sturm. Bild: Inka Grabowsky

Stiftung zum «Danach»

Nach der Brandschatzung verliessen nicht alle Mönche die Kartause. Einige kümmerten sich um den Wiederaufbau. Rund dreissig Jahre später wurde die Kirche neu geweiht – durchaus zur Freude des heutige Procurators der Stiftung Kartause Ittingen, Heinz Scheidegger: «Erhalten und Beleben der Kartause ist unser Auftrag. Das haben die Mönche damals auch gemacht. Und deshalb beteiligen wir uns gerne an dem Projekt, unter andern am 23. Juni mit einem Vortrag vom Stiftungsrat und Kirchenhistoriker Markus Ries, der sich der Frage widmet, warum die Mönche damals geblieben sind.» 

Tecum und die Landeskirchen

Ursprung des Aufstands, bei dem auch soziale und politische Motive mitspielten, war unstrittig die neue religiöse Überzeugung, die der Reformator Zwingli unter das Volk gebracht hatte. Diesem Glaubens-Aspekt widmet sich der Stationenweg, den beide Landeskirchen und der Verein tecum organisiert haben. Er ist rund zwanzig Kilometer lang. Man kann ihn abwandern oder abradeln. 

An sieben Schauplätzen informieren Gedenktafeln über die jeweiligen Geschehnisse und ihre Implikationen. Über QR Codes auf jeder Stele kommt man an einen Podcast, den Thomas Bachofner vom tecum mit der Hilfe seiner Familie szenisch gestaltet hat. 

 

Der Stationenweg zeichnet den Zug der Aufständigen zur Kartause nach.

Kloster und Kunst in Stein am Rhein

Einer der Ausgangsorte für den Sturm war Stein am Rhein, weshalb Museum Kloster Sankt Georgen zu einem Partner des Jubiläumsprojekts wurde. «Wir erzählen von der kontrollierten Abwicklung des Benediktinerkonvents und der Übernahme durch die Zürcher», erklärt Andreas Münch. «Es geht auch um die Frage, wie für das einfache Volk das Leben unter dem Krummstab war, bevor die Äbte abgesetzt wurden.» Die Ausstellung, die im Mai beginnt, dauert bis Oktober 2025. 

Im Kulturhaus Obere Stube geht es um die Positionen zeitgenössischer Künstler zum Thema. Am 3.Mai wird auf der Stadtwiese die Skulptur «Altar» von Kris Martin eingeweiht. 

Eine Gemeinschaftsausstellung des belgischen Künstlers mit dem finnischen Fotografen Ola Kolehmainen unter dem Titel «Aus Überzeugung» folgt ab 28. Juni. «Beide setzen sich mit dem Sakralen auseinander. Religiöse Praktiken und Repräsentationsformen kann man heute genauso hinterfragen wie vor 500 Jahren», so Kuratorin Helga Sandl. 

Kirche und Museum in Stammheim

Dem Thema «Erinnern» widmet sich das ehrenamtlich betriebene Museum Stammertal. In Stammheim lebten Hans und Johannes Wirth. Hans war Untervogt und damit politisch verantwortlich, sein Sohn Johannes war reformierter Pfarrer. Beide wurden – gemeinsam mit Burkart Reutimann aus Nussbaumen – von den katholischen Tagsatzungsabgeordneten der Alten Orte als Rädelsführer des Ittinger Sturms ausgemacht und nach Folter hingerichtet. 

Immerhin wurde dadurch ein Konfessionskrieg vermieden. «Vor hundert Jahren, zum 400. Jahrestag, erschien die Broschüre ‹Märtyrer von Stammheim›», erzählt Pfarrer Heinz Jürgen Heckmann. So polemisch wolle man bei der diesjährigen ökumenischen Veranstaltung nicht vorgehen. Stattdessen gibt es vier Gedenkfeiern und einen Skulpturenweg, für den der Künstler Mike Albrow aus Oberstammheim vier überlebensgrosse Figuren aus Holz und Jute geschaffen hat. Sie werden an der Kirche, der Galluskapelle, bei Sankt Anna und der Antoniuskapelle stehen. 

Damit bei all dem Gedenken die Lebensfreude nicht zu kurz kommt, hat die Kirche Stammheim vom Weingut Glesti einen Wein mit 1524-Etikett produzieren lassen. «Er kostet natürlich 15,24 Franken», lacht Pfarrer Heckmann.

 

Wie wirkt ein sakraler Raum? Ola Kolehmainen fragt das in Stein am Rhein.

 

 

Start am 7. April: Mehr zum Rahmenprogramm

Details zum Rahmenprogramm für die Ausstellungen und die Veranstaltungen ab 7. April gibt es hier.

 

 

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