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Die verlorene Ehre eines Bauern

Die verlorene Ehre eines Bauern
Der Bariton Chasper-Curò Mani bei den Proben zum Musical "Schacher Sepp". Im Stück spielt er den Baulöwen Roger Studer. | © Michael Lünstroth

Musical in Mammern: Barbara Tacchini und David Lang bringen ab 2. Juni ihr neues Stück „Schacher Sepp“ auf die Bühne. Es geht um vergiftete Böden und toxische Mechanismen unserer Gesellschaft. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Wer in diesen Tagen zwischen Kreuzlingen und Schaffhausen entlang des westlichen Bodenseeufers unterwegs ist, der kann auf der Höhe Mammern eine besondere Entdeckung machen. Sie ist leuchtend gelb und rot, streckt zwei Zipfel in die Luft, fasst 300 Zuschauer:innen und ist mit kräftigen Seilzügen in den saftigen Boden am Ufer des Bodensees verankert - ein Zirkuszelt, wie es in einem Lexikon abgebildet sein könnte. Zwischen dem 2. und 18. Juni kann man hier ein besonderes Raubtier beobachten - den Menschen.

Denn genau darum wird es gehen, wenn der Komponist David Lang und die Regisseurin Barbara Tacchini ihr erstmal gar nicht nach Sozialstudie klingendes Musical „Schacher Sepp“ auf eine Bühne unter der Kuppel des Zirkuszeltes bringen. Sie wollen das Wesen des Menschen erforschen und suchen nach einer neuen Antwort auf die alte Frage, warum wir manchmal so brutal miteinander umgehen und was das mit Betroffenen macht, wenn sie sozial ausgeschlossen und geächtet werden.

 

Der Komponist David Lang vor dem markanten Zirkuszelt in Mammern. Hier spielt seine neue Produktion "Schacher Sepp". Bild: Michael Lünstroth

Die wahre Begebenheit

Lang und Tacchini berufen sich für ihre Inszenierung auf eine wahre Begebenheit aus den 1970er Jahren im Kanton Aargau. Ein Bauer musste wegen Dioxinvergiftungen seinen Hof aufgeben. Während Politik und Dorfgemeinschaft die Verantwortung dafür in den angeblich mangelhaften hygienischen Bedingungen auf dem Hof sahen, hatte der Bauer stets die nahe Kehrrichtverbrennungsanlage in Verdacht seine Böden zu vergiften. Staatlich angeordnete Untersuchungen brachten keine eindeutigen Ergebnissen, am Ende wurde der Bauer aus seinem Dorf gejagt und er musste sich anderswo eine neue Existenz aufbauen.

„Für die Familie war das ein traumatisches Erlebnis“, stellt Komponist David Lang fest. Er weiss das so genau, weil er für seine Recherche zu dem Fall mit den Nachfahren des Biobauern gesprochen hat. Aufmerksam wurde er auf diese Geschichte über einen Zeitungsartikel aus dem Jahr 2021.

Darin wurde thematisiert, dass sich die Gemeinde bei dem betroffenen Bauern entschuldigte für das begangene Unrecht. Nach mehr als 50 Jahren. Für den betroffenen Bauern kam das zu spät - er war bereits verstorben. Aber für den Autor und Musiker David Lang war das Anlass genug, sich eingehender mit dem Fall zu befassen. „Mich hat das extrem irritiert, dass es dazu keinen grösseren Aufschrei gab und viele Menschen alles einfach so hingenommen haben. Dieses menschliche Schicksal hat mich stärker aufgewühlt als die Vergiftung des Bodens.“

 

Probenarbeit: Regisseurin Barbara Tacchini, Bariton Chasper-Curò Mani und Komponist David Lang bei den Vorbereitungen zum Musical "Schacher Sepp". Bild:Michael Lünstroth

Vergiftete Böden, vergiftetes gesellschaftliches Klima

Dazu kamen weitere Schlagzeilen aus dem Jahr 2021. Damals riet der Kanton Waadt zum Verzicht auf Gemüse aus stark verseuchtem Boden. Die Vergiftung hing mit einer inzwischen stillgelegten Kehrrichtverbrennungsanlage zusammen. Da war klar: Barbara Tacchini und David Lang hatten das Thema für ihre zweite Zusammenarbeit nach dem „Runggle Buur“ (2019) gefunden.

„Mich hat an der Geschichte vor allem das fragile Gleichgewicht einer Gesellschaft interessiert, welche mit allen Fasern an Sicherheit, Liebe und Geborgenheit festhält und einer Lebensrealität, die diese Sicherheit gefährdet und aufbricht“, sagt Regisseurin Barbara Tacchini, die auch die Textfassung des Stücks gemeinsam mit David Lang erarbeitet hat.

Ein Freizeitpark auf verseuchtem Boden?

Beide wollten aber kein reines, dokumentarisches Theater inszenieren, sondern ein Musical. Deshalb ergänzten sie die wahre Begebenheit um einen fiktiven Weiterdreh. „In unserer Geschichte kehrt der alte Bauer Jean Traber betagt in seine Heimat zurück, um die Feierlichkeiten zum 25-jährigen Bestehen eines Freizeitparks, der auf seinem früheren Grund erbaut wurde, zu stören“, erklärt Regisseurin Tacchini.

Gleichzeitig taucht auch Trabers Tochter Laura in dem Ort auf, um nach ihren Wurzeln zu forschen. „Ab da entwickelt sich eine komödienhafte Intrige“, sagt David Lang. Humor sei wichtig gewesen, um der Schwere des Stoffes etwas entgegen zu setzen. „Denn am Ende des Tages machen wir hier immer noch Sommertheater und ein Musical“, findet der Komponist.

Wie ein Jodel-Hit aus dem Jahr 2007 zum Titel wurde

Den Titel ihres Musicals haben Tacchini und Lang sehr bewusst gewählt. Es ist eine Anspielung auf das Lied vom Schacher Seppli, das 2007 der Jodler Ruedi Roman zu einem Riesen-Hit in der Schweiz gemacht hat. Der Text dazu sei bemerkenswert: „Ein Vagant sinniert vor der Himmelstür über die eigentlich traumhafte Schweiz, in der Schein und Sein nicht immer übereinstimmen und das Geld regiert“, erläutert Barbara Tacchini die Hintergründe.

 

Für sie stehe das Lied für die schrittweise Ausgrenzung der Familie Traber. „Irgendwann darf Jean nicht mal mehr das Solo mit dem Dorfchor in besagtem Lied singen. Das ist etwas vom Schlimmsten für ihn, ein Zeichen, das er keine Verbündeten mehr hat.“

David Lang hat das Stück als Musical für sechs Solist:innen, Chor und Band komponiert. Während die Solist:innen professionelle Musiker:innen sind, besteht der Chor aus Laien. Insgesamt 20 Menschen zwischen 17 und 70 Jahren aus dem ganzen Kanton beteiligen sich so an der Inszenierung. „Sie singen nicht nur, sondern spielen auch mit. Sie stellen die Dorfbevölkerung dar und kommentieren das Geschehen auf ihre Weise“, sagt der Komponist. Die Zusammenarbeit mit dem Chor habe er als sehr bereichernd wahrgenommen. „Das gibt dem Ganzen eine sehr besondere und persönliche Note“, findet Lang.

 

Hier wird geprobt: Regisseurin Barbara Tacchini bespricht mit Bariton Chasper-Curò Mani eine Szene aus dem Musical "Schacher Sepp". Bild: Michael Lünstroth

Breites musikalisches Spektrum

Bei der musikalischen Umsetzung des Stückes setzt David Lang, wie auch schon in früheren Produktionen, auf einen breiten Stil-Mix: „Hip-Hop jagt Chanson, Cha-Cha-Cha den Jodel, Pop und Rock inklusive“ zeigt der Komponist das musikalische Spektrum auf, das die Zuschauerinnen und Zuschauer erwartet ab dem 2. Juni in Mammern.

Und eines ist ihm noch wichtig: Ziel des Stücks sei es auf keinen Fall den moralischen Zeigefinger zu schwingen, Urteile zu fällen und den oder die eine Schuldige zu benennen. „Wir zeigen nur auf, wie wir Menschen ticken. Wie sozialer Druck Menschen zum schweigen bringen kann, wie manipulierbar wir sind und das Zivilcourage in Sonntagsreden oft ganz toll klingt, im echten Leben aber dann doch nicht so einfach umzusetzen ist“, sagt David Lang. Was das Publikum dann daraus mache, sei ganz ihm überlassen.

 

Das Bühnenbild zum Musical "Schacher Sepp" will Jahrmarkt- und Freizeitparkatmosphäre vermitteln. Bild: Michael Lünstroth 

 

Die Aufführungstermine

Die Premiere des Musical „Schacher Sepp“ findet am Freitag, 2. Juni, 20 Uhr, in Mammern statt. Weitere Aufführungen zwischen dem 3. und 18. Juni. Beginn jeweils 20 Uhr. Ausser bei den Sonntagsterminen, da startet die Aufführung bereits um 18 Uhr. Tickets (ab 60 Franken) gibt es über die Website der Bühne Mammern.

 

 

 

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