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von Jeremias Heppeler, 19.06.2020

Echt jetzt?

Echt jetzt?
Die Hand an dem Virus: Warum Verschwörungstheorien in Zeiten der Pandemie mal wieder Hochkonjunktur haben. | © Jeremias Heppeler

Verschwörungstheorien finden in Zeiten der Pandemie rasend schnell Verbreitung. Was macht sie so attraktiv? Und wie funktionieren sie eigentlich? Eine Annäherung.

Eine bittere Erkenntnis der vergangenen Wochen: Auf wissenschaftlichen Fakten basiertes Diskutieren scheint 2020 vielerorts nicht mehr möglich. Doch warum ist das so? Und warum sind Verschwörungstheorien momentan erfolgreicher als je zuvor?

Erstmal: Verschwörungstheorien sind nichts Neues. Sie ziehen sich offensichtlich durch die Menschheitsgeschichte, ein Grossteil der gegenwärtig präsenten Theorien wird seit mehreren Jahrzehnten praktisch unverändert rezitiert - und an die jeweiligen Parameter der Zeit angepasst. Eine vielschichtige, wenn auch mehrfach codierte Analyse, wie Verschwörungstheorien entstehen, liefert Umberto Eco mit seinem Roman „Das Foucaultsche Pendel”.

Was Umberto Eco schon wusste

Dieser erzählt (extrem runtergebrochen) die Geschichte dreier Freunde, die (anknüpfend an ein Sammelsurium von historisch-mystischen Texten) spielerisch damit beginnen einen „grossen Plan” zu entwerfen - eine Art Mutter aller Verschwörungstheorien, gespickt, gewürzt und verziert mit zahlreichen Elementen und Symbolen aus bestehenden Theorien. Das Problem: Es dauert nicht lange und die Verschwörungstheoretiker beginnen damit an den grossen Plan zu glauben… Eco offenbart praktisch im Vorbeigehen, wie diese Art des Denkens entsteht, aber auch wie es ihr gelingt, so viele Anhänger zu ködern.

Der entscheidende Kniff: Ist eine Theorie erstmals formuliert, so finden sich innerhalb der Menschheitsgeschichte, die Massen an Texte angehäuft hat, in der Literatur, in der Kunst und der Architektur (die aus offensichtlichen Gründen zu weiten Teilen auf Geometrie und Symmetrie basiert) irgendwo passende Verweisstücke, Symbole und Subtexte, die (aus dem Kontext losgelöst) die eigene Theorie unterstützen.

Dieses Abtrennen des Kontext und aller äusseren Bedingungen ist allerdings explizit unwissenschaftlich und führt dazu, dass genau dort Verbindungen hergestellt werden, wo eigentlich keine sind.

Video: Die Anatomie von Verschwörungstheorien (SRF)

Gefährliche Verharmlosung des NS-Terrors

Eine weitere, brandgefährliche Taktik der Verschwörungstheoretiker ist die gezielte Verschiebung historischer Realitäten. Zentrales und leider weit verbreitetes Narrativ hierbei ist der wirklich absurde Vergleich der gegenwärtigen Presselandschaft mit der gleichgeschalteten Presse im NS-Regime und der damit einhergehende Vorwurf, dass damals wie heute nur eine regierungsgesteuerte Mainstream-Meinung stattfinden durfte.

Legt man das perfide Gedankenkonstrukt hinter dieser Aussage frei, so stösst man nicht nur auf eine hinterlegte Relativierung der NS-Verbrechen, sondern vor allem auch auf die konkrete Konstruktion einer Opferrolle, die das Andenken an all jene, die für freie Meinungsäusserung im Faschismus kämpften, mit Füssen tritt.

Oder anders: Ein Anhänger der „flachen Erde”-Theorie sollte sich auch nicht mit Galileo Galilei vergleichen, weil jener in einer nicht-wissenschaftlichen Welt wissenschaftlich argumentierte, während Verschwörungstheoretiker in einer wissenschaftlichen Welt nicht-wissenschaftlich argumentieren. Das ist der entscheidende Unterschied. Und das nächste vielarmige Paradox, das sich auftut.

Toxische Mischung: Antisemitismus und Verschwörungstheorien

Daran anknüpfend müssen wir auch über Antisemitismus sprechen. Denn ein Grossteil aller Verschwörungstheorien verzahnt sich tief mit irrwitzigen Vorurteilen und Ressentiments gegen den jüdischen Glauben. Im Gegendreh materialisierte sich bereits der frühe Antisemitismus in willkürlichen Vorurteilen und einfachen Verschwörungsgedanken. Zitat:  „Historisches Feindbild: Innerhalb des Christentums wurde seit dem Mittelalter das Gerücht verbreitet, dass sich Jüdinnen und Juden mit dem Antichristen verschworen hätten”, heisst es in „Die Welt am Abgrund. Ein Planspiel zu antisemitistischen Verschwörungstheorien” der Amadeu Antonio Stiftung.

So reifte im Mittelalter der aus der Luft gegriffene Vorwurf, die Juden würden das Grundwasser vergiften, zu einem legitimen Hauptargument der aktiven Judenverfolgung etwa zu Zeiten der grossen Pest von 1347 und 1350. Besonders erschreckend: An diesen widerwärtigen Narrativen hat sich bis heute - und trotz der ultimativen menschlichen Katastrophe des Holocausts - nichts geändert. Die Brunnenvergiftung findet sich etwa in der Behauptung wieder, die Israelis würden den Palästinensern den Zugang zu Wasser verwehren.

Und deshalb muss hier eine Nulltoleranz gelten: Wer wirre Theorien einer Weltverschwörung unreflektiert ins Netz bläst, wer ohne nachzudenken Videos eines Ken Jebsen teilt, wer auf Anti-Corona-Hygiene-Demos neben Rechtsradikalen marschiert, der flirtet offensiv mit antisemitischen und Holocaust verharmlosenden Ansätzen.

Video: Die Verschwörungstheorien rund um das Coronavirus

Wenn der Glaube das Denken bestimmt

„...wenn sich das Hinterfragen selbst nicht mehr hinterfragt und Annahmen über dunkle Machenschaften als Wahrheiten gesetzt werden, verwandelt sich Spekulation in Glauben.", schreibt Anselm Neft in seinem Essay „Von Dunklen Mächten wunderbar geborgen" in der Zeit über Verschwörungstheorien, die er im gleichen Text als Glaube definiert. Das trifft die Sache im Kern. Und führt uns vor Augen, warum es nicht reicht, alle Verschwörungstheoretiker als Vollspinner abzustempeln.

Denn Glaube - Achtung, Phrasenschwein - versetzt Berge. Und Glaube definiert sich entscheidend durch fehlende Beweise. Viele Gläubige definieren den eigenen Glauben als ihr höchstes Gut, für das es sich mit allen Mitteln zu kämpfen gilt. Nicht grundlos gründet ein hoher Prozentsatz von Kriegen und Terroranschlägen in der Geschichte und in der Gegenwart in fundamentalistischen und radikalisierten Wahrnehmungen von Glaube der unterschiedlichsten Religionen.

Ähnliches könnte uns auch aus der Verschwörungsblase drohen, die nicht selten von einem bewaffneten Kampf fabuliert. Der breiten Masse sind Verschwörungen der Marke „Bill Gates will uns per Zwangsimpfung verchippen" oder „Die Eliten halten hunderttausende Kinder unterirdisch gefangen, um ihr Blut zu trinken" sicherlich schlichtweg zu abgedreht. Umso grösser erscheint die Gefahr für / durch all diejenigen, die sich auf den ungewöhnlichsten Wegen von Esoterik bis Klimawandel-Kritik genau in diesem Netz verheddern.

Verzweifelt gebraucht: Mehr Bildung und Medienkompetenz

Hinzu kommen die scheinbar unendlichen Möglichkeiten des Internets, das uns einst das Versprechen gab, alles Wissen nur einen einzigen Klick entfernt zu bunkern. Das Problem: Neben Wissen und Fakten lagert hier auch massenhaft Nicht-Wissen und Fake-News. Um das eine vom anderen zu trennen, braucht es dringend Bildung und Medienkompetenz. Medienkompetenz, die vor allen Dingen die Generationen jenseits der 30 nie gelernt haben und die bis heute in den Lehrplänen viel zu kurz kommt.

Und schon tut sich das nächste Paradox auf: Während professionell arbeitende Medien dem Generalverdacht unterworfen werden, die „Mainstream-Meinung” zu reproduzieren, wobei dort jeder Text, jeder Podcast und jedes Video mindestens zwei Kontroll-Instanzen durchläuft, werden (Video)-Blogger wie etwa Ken Jebsen oder Influencer wie Xavier Naidoo und Konsorten ohne jegliches Hinterfragen rezitiert.

Video: Warum Verschwörungstheorien so verführerisch sind

Generalverdacht vs. Generalvertrauen

Ein Beispiel: Die selbsternannte Partei der Verschwörungsideologen "Widerstand2020" um den Arzt Bodo Schiffmann hatte grossspurig erklärt, dass sie bereits 100 000 Mitglieder zählte. Laut einem Artikel auf www.volksverpetzer.de wurde schnell klar, dass man bereits als Parteimitglied galt, wenn man nur deren Homepage besuchte.

Mehr noch: Die Gruppierung hatte nicht annähernd die Nachweise erbracht, um überhaupt als Partei zu gelten. Schlussendlich korrigierte Schiffmann die Mitgliederzahlen von 100 000 auf knappe 50 herunter - die Falschinformation war da aber schon längst gewuchert.

Hier rutscht die Utopie des Internets, welches dem Einzelnen zumindest theoretisch die Macht verleiht, neben Medienkonzernen zu bestehen, immer öfters ins Dystopische ab. Umso wichtiger wird es für Journalisten in Zukunft sein, kompetent und mit wachem Geist zu arbeiten, aber eben auch klare Kommunikationskante zu zeigen, um nicht im digitalen Strudel abzusaufen.

Für echte Enthüllungen braucht es Whistleblower, keinen irren veganen Koch

Ja, es gibt auch Verschwörungen, die sich als real entpuppen. Spätestens seit Edward Snowdens Enthüllungen über das Ausmass der weltweiten Überwachungspraktiken der Geheimdienste müssen wir diesen Realitäten ins Auge blicken. Für diese Erkenntnis brauchte es aber keinen veganen Koch und keinen Soulsänger, die irgendwelche Runen deuten, sondern einen Whistleblower, der bereit war, alles zu riskieren. Und eine freie Presse, die solche Fälle von Grund auf aufbereitete. Im Zweifel auch genau dann, wenn die offiziellen Behörden versagen.

Tatsächlich stossen wir an der Stelle auf eine reale Gefahr, die momentan wie Pilze vielerorts aus dem Boden spriesst. Ernstzunehmende, teils existenzielle Ängste und Sorgen werden unter den Megafonen teils irrwitziger Verschwörungstheorien niedergebrüllt.

Auch hier war es ein Videoschnipsel, der sich auf Twitter zum Schneeball zusammen kursierte (siehe Video unten), der die Brisanz der Lage besonders anschaulich verdeutlichte: Ein Fernsehteam des Magazins ARD Extra interviewte einen sichtlich am Boden zerstörten älteren Herr, der an einer sogenannten Hygiene-Demo gegen die Corona-Massnahmen teilnahm. Den Tränen nahe gab der mit einem Mundschutz ausgerüstete Mann zu Protokoll: „Meine Frau ist in einem Pflegeheim seit Mitte Dezember, ich bin 84, sie auch und ich hab sie schon 8 Wochen nicht gesehen. Es ist eine seelische Folter. Ich war jeden Tag hingegangen.”

Video: Berechtigte Sorgen vs. Stimmungsmache

Plötzlich mischt sich ein Lautsprecher von der Seite ein und brüllt dem eindeutig überforderten Mann zusammen: „Dank Merkel-Regime. Wir hatten vor zwei Jahren die Influenza. Da war die Sterberate bei weitem höher. Da hat sich keine Sau dafür interessiert. Nicht eine einzige Sau. Lass dich doch nicht veralbern. Wenn du ARD und ZDF zuhörst, dann hast du praktisch die Kontrolle über dein Leben verloren. Das musst du dir doch mal merken.” Worauf der ältere Herr begegnet: „Nein, absolut nicht. Man muss auch vernünftig bleiben.”

Warum wir der Negierung von Wissenschaft entgegen treten müssen

Ein stärkeres Symbolbild als diesen Videoausschnitt kann es kaum geben. Und überhaupt: Vernunft! Vernünftig bleiben. Das ist das Stichwort. Wir dürfen diese Reverse-Aufklärung, diese Negierung der Wissenschaft, diese Hinwendung zur Symbolik und der Dunkelheit des Mittelalters nicht zulassen.

Wer über Jahrtausende gewachsene und stetig hinterfragte Wissenschaft ohne auch nur einen Hauch von Fachkenntnis in Frage stellt, der agiert mit einem Selbstbewusstsein, das jedes Mass verloren hat. Vorneweg Narzissten, hinterher die immer breitere Masse. Die Gelangweilten. Die Wütenden. Angetrieben von mutierten Ängsten. Eine autoritäre Ideologie zeichnet sich immer stärker ab. 

Wie der Diskurs von Rechtsaussen verunmöglicht wird

Das System einer autoritären Ideologie, bietet laut Theodor Adorno einen Ausweg aus der Erfahrungslosigkeit und eine Scheinspontanität. Adorno analysierte den Antisemitismus im dritten Reich. Und hier schliesst sich ein Kreis, der sich nie hätte öffnen sollen.

Ähnliche Vorgänge sind bis heute mit Blick auf die Flüchtlingskrise oder die Klimadebatte zu beobachten: Ein Austausch auf Augenhöhe erscheint längst unmöglich, weil der Boden des Diskurs von Rechtsaussen so lange verwässert wird, bis nichts als eine Schlammwüste bleibt, auf der du ausrutscht, die dich verschlingt.

Die neue Dreifaltigkeit: Wissenschaft, Aufklärung, Diskurs

Und diese Sümpfe gilt es nun trocken zu legen. Durch Demokratie. Und Wissenschaft. Durch Aufklärung. Durch offenen Diskurs. Durch Mut, den Lautsprechern sachlich zu widersprechen. Aber auch durch den Mut, sich toxischen Diskussionen zu entziehen und sie im Nichts versanden zu lassen.

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