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von Linda Lengler, 09.06.2023

Einer, der wie keiner Klang erlebbar macht

Einer, der wie keiner Klang erlebbar macht
Remise beim Schloss Seeburg wird von Andres Bosshard bespielt | © Linda Lengler

Andres Bosshard bezeichnet sich selbst als Klanggärtner. Als solcher bietet er Klangspaziergänge an und kreiert beeindruckende Klangkunst, ganz aktuell in der Remise Kreuzlingen. (Lesezeit: ca. 6 Minuten)

„Also was ich wirklich nicht kann, ist singen“, sagt Andres Bosshard und lacht. Der studierte Musik- und Kunstwissenschaftler ist ein bisschen wie Jean Baptiste Grenouille aus dem Roman „Das Parfüm“: Er kann Klänge bis ins kleinste Detail in seine Einzelteile zerlegen – aber sich selbst hören, das kann er nicht. Die mörderische Seite der Romanfigur hat er natürlich nicht. Andres Bosshard konzentriert sich darauf, Klänge und Töne zu kreieren, sogenannten Lärm in seinen Einzelteilen zu ergründen, und baut für seine Klangprojekte auch Instrumente.

Bosshard arbeitete nach seinem Studium jahrelang als Querflötenlehrer in Zürich, bevor er seiner Berufung als Klangarchitekt nachging. „Ich war nie der klassische Musiker. Ich kann das eigentlich gar nicht so gut, vielleicht musste ich deshalb in meinen Musikkreationen immer frei sein“, sagt der 68-Jährige. In seiner Arbeit findet er immer wieder neue Wege, Klang erlebbar zu machen.

Das heisst, dass man nicht nur hört, sondern auch spürt, fühlt, sieht – eben erlebt. Für manche mag das esoterisch klingen, aber im Gespräch mit Bosshard bekommt man ein Gespür für Welten, die mit dem Auge nicht immer sichtbar sind. „In Indien habe ich einen Mann kennengelernt, der mit Klängen Gewitter hervorzaubern und Kerzen anzünden konnte“, erzählt er. Ist das metaphorisch gemeint?

Der Pionier

Auf seinen vielen Reisen durch die Welt, Indien, Japan, Österreich – um nur einige wenige zu nennen – sammelte Bosshard ein Repertoire an Klängen, das er mit herkömmlichen Instrumenten nicht zum Ausdruck bringen konnte. Er erfand also eigene Instrumente. Beispielsweise den „Matrixmixer“, ein Plexiglasmischpult zur manuellen Bewegung von Klängen in einem Raum. Oder den „Klangkomet“, eine Polyederkonstruktion mit drei Parabolspiegeln und fünf Bosshardplexi-Lautsprechern, der sich vertikal im Raum bewegen und drehen kann.

Andres Bosshard liebt die Klangwelten
Andres Bosshard hört genau hin. Bild: Linda Lengler

 

Für Nichtkenner klingt das alles erstmal komplex. Worum es aber im Wesentlichen bei Bosshards Instrumenten geht: Klang nicht nur hören, sondern auch im Raum erweitern. Klang nicht nur wahrnehmen, sondern auch spüren. Dabei spielt der physikalische Raum immer eine grosse Rolle in Bosshards Projekten. Es gibt nicht nur Klangräume, sondern auch Räume, die Klänge verändern oder bereichern können.

In seinen vielen Projekten hat der Künstler gezeigt, wie er das gestaltet. 1987 positionierte Bosshard kleine Lautsprecher an einem Staudamm im Kanton Tessin. Es entstand ein gigantischer Klangreflektor. Eines seiner berühmtesten Kunstwerke ist Telefonia, in der Musiker:innen 1991 zum einen in der Hall of Science in New York, in der Kesselschmiede Winterthur und auf dem Gipfel des Säntis ein Simultankonzert gaben.

Via Telefonstandleitungen, Satellitenverbindung und Radiokanälen gingen die Künstler:innen in einen akustischen Austausch und konnten, obwohl sie so viele tausend Kilometer voneinander entfernt waren, aufeinander reagieren und eingehen. Telefonia wurde 2021 vom Haus der Elektronischen Künste in Basel aufgegriffen und zeigt die damalige Pionierleistung von Bosshard. „Telefonia verkörpert die Kontinente umspannende Ausdehnung von Klang ebenso wie dessen kontextgebundene Räumlichkeit, als essentielle Marker experimenteller, zeitgenössischer Musik“, schreibt das Museum zum Projekt.

„Den schönsten Klang gibt es im Himalaya“

Für Bosshard ist jedes Hören ein kreativer Prozess. Die Geräusche, die auf ihn einschwingen, machen etwas mit ihm und dem Raum, in dem er sich bewegt. Geräusche, die er nicht mag, das gibt es nicht wirklich. Wohl aber Situationen, die ihm das Hören verwehren. Beispielsweise wenn im Verkehr alles durcheinander geht und man des Hörraums beraubt wird. „Manchmal stört dann aber sogar ein kleiner Vogel. Es ist mehr die Situation und das Nähe-Distanz Verhältnis. Man kann mit jedem Geräusch ein Verhältnis eingehen, aber die Relation muss stimmen.“

„Manchmal stört dann aber sogar ein kleiner Vogel. Es ist mehr die Situation und das Nähe-Distanz Verhältnis. Man kann mit jedem Geräusch ein Verhältnis eingehen, aber die Relation muss stimmen.“

Andres Bosshard

Den schönsten Klang erlebte der Künstler bei den Ureinwohnern Santali im Himalaya. Das Volk lebt laut Bosshard im Klang. Für sie ist das Ausdruck dafür, mit dem permanenten Schöpfen des Lebens in Verbindung zu stehen. Der Hauptklang im Dorf ist das Murmeln. Murmeln bedeutet, dass man Menschenstimmen wahrnimmt, aber noch nicht versteht, was sie sagen. „Dieser Zustand ist für uns Menschen wie ein Keyklang. Darum gehen wir gerne in der Stadt spazieren oder in eine Kneipe. Die Santali sagen, dass man diesen Grundklang vier Stunden am Tag hören muss, um gesund zu bleiben.“

Im Dorf der Santali gibt es einen Musikpriester, der sich, wie Bosshard, Klanggärtner nennt. Seine Aufgabe ist es, durch das Dorf zu gehen und, wenn es zu still ist, einen Klang einzupflegen. Beispielsweise setzt er dann ein Schwein in den Vorgarten und gibt ihm zu fressen. Bosshard findet, dass die westliche Kultur durch die Art des Bauens abgeschnitten ist von der Lebensschöpfung. Deshalb arbeitet er auch mit dem Bundesamt für Lärmschutz zusammen und überlegt Konzepte für gute Geräuschregulierung.

Ritt über den See mit Klara B.
Ritt über den See mit Klara B. Bild: Linda Lengler

 

Stille hat eine furchterregende Wirkung auf ihn, denn in der Stille fühlt er sich abgeschnitten. Bosshard lebt mit der Resonanz der Klänge um ihn herum. Jeder Mensch tue das. Deshalb benötigt er auch einige Tage, wenn er an einem neuen Ort ankommt. Drei Tage, damit er die Klangkarten der Orte erfassen kann. Jeder Mensch hat so etwas wie Klangkarten in sich. Das Gehirn speichert Geräusche und ordnet diese einem Ort zu. Bei den meisten Menschen passiert das unbewusst. Bosshard lebt ganz bewusst in diesen Karten.

Klangtürme- und Klangarchitektur

In der Welt der Klänge, gibt es für ihn eine unendlich schöpferische Kraft. Klang bedeutet für ihn Kreativität. Und es ist wahr: Bei einigen seiner Kunstwerke fragt man sich, wie er auf die geniale Idee kam. 2019 kreierte er vier Klangtürme, die windaktiv sind, aber nicht nur Wind fangen, sondern gleichzeitig Klänge übertragen. Die Hallschächte sind im Gebäude der Musikakademie Luzern als architektonischen Raumrätsel versiegelt. In Zürich gibt es dank Bosshard einen Klangbrunnen, der gebaut wurde, um für die akustische Raumwahrnehmung in einem Schulhaus zu sensibilisieren.

Zu seinen Lieblingsprojekten gehören die Klanghimmel, die er in Wien und in Linz schuf. Die Installationen „sonarc-en-ciel“ bestehen aus einem Set mehrerer kleiner mobiler Kompositionen für den Klanghimmel. Sie haben verschiedene überlappende Präsenzen, Flugeigenschaften und sind meist schattenhaft durchsichtig. So beschrieb der Künstler sein Projekt 2011.

Vater, Ehemann und Bandmitglied

Andres Bosshard ist verheiratet und hat einen 14-Jährigen Sohn. Sein Sohn spielt kein Instrument, kennt sich dafür mit Videoproduktion, Musikhinterlegund und Blogging gut aus. „Ich habe meinem Sohn mal ein tolles Schlagzeug gekauft, aber er wollte kein Instrument lernen. Er war immer integriert und bei Vielem dabei. Als er drei Jahre alt war, interviewte er mich das erste Mal.“ Bosshard lächelt, als er das sagt und ist stolz auf die medialen Fähigkeiten seines Sohns. Seine Frau ist Designerin. Er schätzt den Austausch über Wahrnehmung und Räume mit ihr sehr.

„Wenn am Ende vom Konzert noch jemand da war, haben wir uns wirklich gefragt, was wir falsch gemacht haben.“

Andres Bosshard

Bosshard wurde erst spät Vater, weil sich eine Familie mit seinem früheren Lebensstil schlecht vereinbaren liess. 25 Jahre tourte er mit seiner Band Nachtluft. „Wenn am Ende vom Konzert noch jemand da war, haben wir uns wirklich gefragt, was wir falsch gemacht haben“, erklärt er schmunzelnd die experimentelle Musik der Band. „Wir haben richtig gegeneinander musiziert und waren nicht damit einverstanden, was der andere da spielt.“ Mit moderner Musik hat Bosshard nicht viel am Hut. „Es ist wichtig, dass die jungen Künstler diese Musik machen dürfen und ihre Identität suchen. Aber manchmal denke ich mir schon, dass die völlig durchgeknallt sind.“

Ein Spaziergang mit Bosshard

Spaziergänge mit Andres Bosshard sind interessant, weil er das Gehör auf Dinge dirigiert, die um einen herum sind. Wie ein Kompass funktioniert das Gehör und das macht er auf seinen Klangspaziergängen den Teilnehmer:innen bewusst. „Porschefahrer“, kommentiert er lächelnd und vermittelt, dass die Art und Weise, wie der junge Mann mit seinem dicken Auto daher scheppert, etwas ausdrücken möchte. „Viel mehr, als die 100 000 anderen Autorfahrer!“ Er macht den Teilnehmer:innen bewusst, dass es nicht schwierig ist, seine Aufmerksamkeit auf das Gehör zu lenken. Selbst wenn heutzutage viele, vor allem jüngere Leute, mit Kopfhörern durch die Gegend laufen, weiss Bosshard, dass sie sich trotzdem in der Frequenz des Sozialraumes bewegen.

Ritt über den Bodensee

Sein aktuelles Projekt „Ritt über den Bodensee“ realisierte er gemeinsam mit Hans Peter Litscher. An sieben Abenden und in den sehr frühen Morgenstunden können die Besucher:innen die Geschichte von Klara B. erfahren, die zwischen den 50er und 60er Jahren immer wieder mit ihrer Stute Dagmar über den Bodensee reiten und diese Ritte in komplexe Klangwolken verwandeln wollte. Was auf der Einladung des Klangraums im Schloss Seeburg in Kreuzlingen nicht steht: Klara B. ist auch eine Bosshard und mit Andres verwandt. „Also das ist schon enorm, was wir hier erleben. Und auch unheimlich, wenn die alten Geister sich aus dem Klang heraus uns zeigen“, sagt er, wenn er von den Vorbereitungen des Projektes spricht.

„Also das ist schon enorm, was wir hier erleben. Und auch unheimlich, wenn die alten Geister sich aus dem Klang heraus uns zeigen.“

Andres Bosshard

Auf dem Dach der Remise Kreuzlingen hat Andres Bosshard vier Kugeln installiert. Die Kugeln sind auch Rauminstrumente von ihm, die wie Lautsprecher rund um das Gebäude herum strahlen. „Die Klänge von den Kugeln kommen so frei und transformiert. Sie sind Klangpunkte, man kann sich das vorstellen wie Akupunkturpunkte, aus denen ein Sternbild erzeugt wird“, erklärt er seine Installation. In der Remise selbst ist eine kleine Ausstellung für ausgewählte Besucher:innen zu sehen. Alle anderen machen Spaziergänge durch den Seeburgpark, hören sich durch Klara B’s Geschichte, erleben Bosshards Klanginstallation. In dem Projekt geht es nicht nur um die Vergangenheit von Klara B., die inzwischen verstorben ist, sondern auch um die Wahrnehmung von Schall.

Ob man den Geist von Klara B. auf Bosshards und Litschers Reise durch die Zeit wirklich spürt, welche Klänge dem:r Besucher:in begegnen, inwiefern das Wetter die Ritte beeinflusst und wie erlebbar Bosshards Kunst tatsächlich ist, kann jede:r für sich selbst definieren. Und das ist ja auch das Besondere daran.

 

 

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