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von Maria Schorpp, 25.03.2019

Idylle war gestern

Idylle war gestern
Der Mann mit der Pistole: Szene aus der Produktion «Dieser Himmel zum Beispiel» von Theaterwerkstatt Gleis 5 und Compagnia Dimitri/Canessa. Im Bild die Schauspieler Federico Dimitri (vorne) und Noce Noseda. | © Eliane Munz

Eine Koproduktion der Compagnia Dimitri / Canessa und der Theaterwerkstatt Gleis 5 zeigt in der Uraufführung von „Dieser Himmel zum Beispiel“, wie die minimalistischen Texte von Raymond Carver auf der Bühne an Bildhaftigkeit gewinnen und trotzdem ihre Vieldeutigkeit behalten.

Was die beiden sind, wo sie herkommen, wo sie hinwollen, was sie sich wünschen – wir wissen es nicht. Im Grunde wissen wir das bei den meisten Menschen nicht, denen wir begegnen. Wenn wir mehr zu wissen meinen, handelt es sich ziemlich wahrscheinlich um ein übergriffiges Hinzufantasieren. Was „Dieser Himmel zum Beispiel“ auf die Bühne der Theaterwerkstatt Gleis 5 in Frauenfeld aufscheinen lässt, sind von solchen Vorurteilen gereinigte Gestalten. Auf die pure Erscheinung reduziert. In ihrer ganzen existentiellen Rätselhaftigkeit, in der Unmöglichkeit, sie mit Worten auszuschöpfen. Nur eines ist deutlich zu vernehmen. Die Liebe treibt sie um.

Federico Dimitri und Noce Noseda haben den beiden Figuren ihre eigenen Namen gegeben: Fede und Noce. Es geht somit auch um die zwei Theatermenschen und ihre Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Arbeit. Und das über den Umweg der Texte von Raymond Carver. Motive aus Kurzgeschichten und Gedichten des amerikanischen Autors haben sie zu einem filigranen Textkorpus neu komponiert und dabei Carvers minimalistischen Stil wunderbarerweise gewahrt. Einige der Poeme, die nicht auf Deutsch vorlagen, wurden von Erika Fritsche und Heinz-Andrea Spychiger eigens für die Produktion übersetzt - eine Koproduktion übrigens der Compagnia Dimitri / Canessa aus dem italienischen Livorno und der Theaterwerkstatt Gleis 5 aus Frauenfeld.

Szenen aus «Dieser Himmel zum Beispiel» in der Theaterwerkstatt Gleis 5. Auf den Bildern sind die beiden Schauspieler Federico Dimitri und Noce Noseda zu sehen. Bilder: Eliane Munz

Das kann cool aussehen, oder auch sehr skurril

Wo Raymond Carver Erklärungen ausspart, so könnte man es sehen, steht Federico Dimitri und Noce Noseda sowie der Regisseurin Elisa Canessa die Körperlichkeit des Theaters zur Verfügung. Es bedarf regelrechter akrobatischer Einsätze, um den Fliehkräften der Drehbühne zu widerstehen, auf der die beiden zumeist agieren. Das kann so cool und widerständig aussehen wie bei Noce Noseda, wenn er mit der Kippe in der Hand und das Gewicht nach hinten verlagert auf der rotierenden Scheibe Standfestigkeit demonstriert. Oder so skurril wie bei Federico Dimitri, wenn er im langen Kleid (Kostüme von Joachim Steiner) der Drehbewegung entgegentanzt.

Liebe - nicht nur ein grosses, sondern auch ein umfassendes Wort. Der Klassiker: Mann verlässt Frau (könnte auch umgekehrt sein). Seine Gleichgültigkeit und ihr Schmerz gerinnen zu einer Metapher für die Unvollkommenheit menschlicher Liebesfähigkeit. Das Szenario ist zuweilen auf Carversche Weise sehr amerikanisch, Einsamkeit inmitten von Menschen, wie bei Edward Hopper. Zuweilen aber auch sehr europäisch, wie bei Estragon und Wladimir aus Becketts „Warten auf Godot“, wenn es den Anschein hat, dass sie sich zu zweit im Leben verirrt haben.

Die Idylle ist ein Gaunerstück: Weihnachten ist auch nicht mehr, was es mal war. Szene aus «Dieser Himmel zum Beispiel». Bild: Eliane Munz

Vertrieben aus dem Sehnsuchtsort bürgerlicher Existenz

Der Traum von der immerwährenden, alles überwindenden Liebe, der sich mal in jungen Beinen festklammert, sich ein anderes Mal im Eigenheim mit seliger Weihnacht und Tannenbaum abarbeitet. Gleichzeitig schleicht dieser Mann mit der Pistole umher. Ein Auftritt von gruseliger Komik. Da steht dieses Miniaturhäuschen auf der Bühne, in das gerade mal der Kopf von Noce passen würde. Wie ein Riese im Land der Liliputaner sieht das aus, wie er langgestreckt daliegt. Ein Sehnsuchtsort bürgerlicher Existenz, aus dem erbarmungslos vertrieben wird, wer die Fassade wohlanständiger Selbstbeschränkung nicht aufrechterhalten kann. Dann fleht das aufgegriffene Kind den Sheriff an, es irgendwo abzusetzen, nur nicht zu Hause.

Viel Bewegung ist im Spiel, mal versuchen die beiden, sich auf der Rotationsscheibe zu halten, mal rennt einer neben ihr her. Oft scheinen sie am Rande des Zusammenbruchs, manchmal schon darüber hinaus. Es gibt auch so berührende Szenen, wenn Noce fast nackt dasteht und Fede ihm von hinten wie einem Baby wieder die Kleider überstreift. Dazu läuft eine abgründige Fassung von Judy Garlands „Over the Rainbow“. Skurriles, Clowneskes, sowohl von der metaphysischen als auch einfach komischen Art, lockern das Szenario auf. Lachen erleichtert und zeigt einen Ausweg aus der permanenten Überanstrengung auf.

Eine Metapher auf uns alle, die wir versuchen, das Beste zu machen

Fede und Noce, das können Raymond Carver und sein Alter Ego sein, wo sonst soll der ganze Hochprozentige herkommen, von dem die Rede ist. Das können die zwei Schauspieler sein. Oder eine Metapher auf uns alle, die wir versuchen, das Beste aus dem Ganzen zu machen. Und das wäre, wenn man wie Fede am Ende auf die Frage, was er haben wollte im Leben und ob er es bekommen hat, bejahend antworten könnte: Sagen können, dass ich geliebt werde, mich geliebt fühlen auf dieser Erde.

Das Frauenfelder Publikum spendete der Uraufführung von „Dieser Himmel zum Beispiel“ viel Applaus. Sehr zu Recht. Eine italienische Fassung soll folgen, die im April in Mailand schon mal zu sehen sein wird.

Termine: Weitere Aufführungen am 29. & 30. März in der Theaterwerkstatt in Frauenfeld. Tickets gibt es hier.

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