von Urs Oskar Keller, 19.09.2025
Heidi Bucher: «Häutungen im Bellevue»

Augenblicke (15): Die Schweizer Künstlerin Heidi Bucher hatte im Herbst 1988 an und in den Gebäuden des ehemaligen Nobelsanatoriums «Bellevue» in Kreuzlingen «Häutungen» vorgenommen. Unser Fotokolumnist erinnert sich. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
«Alles ist Abschied», hatte die 62-jährige Künstlerin aus Winterthur im November 1988 an der Finissage ihrer (Arbeits-)Ausstellung in den abgetakelten Raumen der Villa «Bellevue» nahe der Grenze zu Konstanz gesagt. In aller Stille, ohne Störungen von aussen, hatte sie Wände, Türen, Badewannen, Fenster und Möbel mit Gaze, die vorher in Fischkleister getaucht und mit flüssigem Kautschuk behandelt wurde, überdeckt.
Dort traf ich sie an einem kalten Herbsttag bei der Arbeit mit ihrem Hund, machte einige Fotos und sprach mit ihr. Auch die Initiantin und Kunsthistorikerin Elisabeth Grossmann, Jahrgang 1947, war vor Ort. Bei der Arbeit in den sehr baufälligen, villenähnlichen Gebäuden halfen Bucher 14 Seminaristinnen des damaligen «Thurgauer HandarbeitslehrerSeminars» (THW) in Weinfelden sowie auch einige Kolleginnen aus dem Kantonalen Lehrerseminar (heute Pädagogische Hochschule Thurgau, PHTG).

Initiative von Konservatorin Grossmann
Die Initiative zum «Bellevue»-Projekt stammte von Elisabeth Grossmann, ideenreiche und unermüdliche Kunstförderin und Konservatorin des Kunstmuseums des Kantons Thurgau von 1983-1992. «Heidi Bucher und ihre Arbeit kenne ich seit vielen Jahren. Nach einer Vernissage in der Galerie <Kunstraum> in Kreuzlingen, sind Heidi und ich nachts über den Zaun ins Bellevue geklettert. Von der Idee, im ehemaligen Bellevue, das nächstens abgerissen wird, Häutungen zu machen, war Heidi sehr angetan, ja fasziniert», erinnert sich Grossmann, die aus Basel stammt. Nachdem Helfer mobilisiert, die nötigen Mittel aufgetrieben und die Bewilligung bei den Besitzern eingeholt waren, stand dem «Häutungsprozess» (Heidi Bucher: «Ablösungen und Häutungen sind immer schwierig») in der ehemaligen Haute volée-Klinik nichts mehr im Wege.
Heidi Buchers Häute bzw. Häutungen waren eigentlich rituelle Prozesse. Dabei löste sie – mit einer Dose Talgpuder «bewaffnet» – die präparierte Gaze später wieder von den geschichtsträchtigen Objektträgern und bestäubte hinterher die klebrigen Haute damit, um das Zusammenkleben zu verhindern.
Rituelle Prozesse
Unter anderem drehte ein deutsches Fernsehteam damals im berühmten Sanatorium der Psychiater-Dynastie Binswanger – für die «Kunstszene»-Sendungen von SWF 3 – einen zehnminütigen Beitrag über Buchers Arbeit. Die «erinnerungsgesättigte Situation» des Bellevues, mit seinen Räumen, in den unzählige Geschichten, Schicksale, eben viel gelebtes Leben abgelagert hat, eignen sich besonders gut für Buchers «Häutungen», für ihre teils sehr monumentalen Rauminstallationen: 168 Jahre Geschichte (1857 Gründung der Privatklinik), Psychiatrie auf 70'000 Quadratmeter Fläche. Nicht umsonst betitelte der Zürcher Kunstkritiker Fritz Billeter eine Bucher-Kritik mit «Heidi Buchers Häute: Mit Seele imprägniert».
Heidi Bucher hat Spuren gesichert, hat Abdrücke oder Häutungen gemacht, hat Geschichte auf Baumwollgaze gebannt, die bald mit glänzendem Perlmuttstaub nachbehandelt werden. Ihre kolossalen Raumkulissen, Installation und Bilder waren 1993 bis 1994 in der Kartause Ittingen zu sehen und zu erleben.

Die Serie «Augenblicke»
In der Fotokolumnen-Serie «Augenblicke» zeigt Urs Oskar Keller besondere Momente aus seiner Zeit als Foto-Reporter in unserer Region. Zu den Fotografien schreibt er in kurzen Texten auch, wie die Aufnahmen entstanden sind und was sie so besonders macht. Gewissermassen entsteht so eine kleine Geschichte besonderer Foto-Momente aus den vergangenen 50 Jahren. In einem Interview hat er erläutert, wie er die Momente eingefangen hat.
Alle weiteren Beiträge der Serie bündeln wir in einem Themendossier.

Von Urs Oskar Keller
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