von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 07.03.2022
Heimat in Flammen
Was macht der Krieg mit den hier lebenden Ukrainer:innen? Der Kreuzlinger Pianist und Musiklehrer Oleksandr Chugai erzählt von dramatischen Stunden und verzweifelter Machtlosigkeit. Am 8. März veranstaltet er ein Benefizkonzert. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
„Ich bin eigentlich ein unpolitischer Mensch“, sagt Oleksandr Chugai, „aber wie könnte ich unpolitisch bleiben, wenn mein Land angegriffen wird?“ Es ist Montag, der 7. März und wir erreichen den in Kreuzlingen arbeitenden Pianisten und Musiklehrer auf seinem Handy in Warschau.
Er wird eine Geschichte erzählen, wie sie gerade so viele Ukrainer und Ukrainerinnen erzählen müssen: Von der Fassungslosigkeit über den vom russischen Autokraten Wladimir Putin entfesselten Angriffskrieg auf ihr Land, von den Sorgen um Freunde und Verwandte im Kriegsgebiet und von der eigenen Machtlosigkeit, die einen wahnsinnig machen kann.
Jetzt versucht er seine Eltern zu retten
Chugai ist am Wochenende sehr spontan nach Warschau geflogen, um seine Eltern dort abzuholen. Bis vor kurzem lebten sie in Kiew. Seit Tagen sind sie inzwischen auf der Flucht. Erst aufs Landhaus, aber als die Kämpfe näher rückten war klar, dass das nicht reicht, dass sie komplett raus müssen aus dem schwer umkämpften Gebiet.
„Wir sind in ständigem Kontakt, jetzt stehen sie seit 30 Stunden im Stau vor der polnisch-ukrainischen Grenze und kommen nicht raus“, sagt der Pianist. Alles dauert lange, die Sorgen wachsen stündlich und doch braucht man Geduld: „Ich hoffe, dass sie spätestens heute Abend hier ankommen und wir dann gemeinsam in die Schweiz reisen können“, so Chugai.
„Das ist alles wie in einem schrecklich schlechten Film.“
Oleksandr Chugai, Pianist
Seit inzwischen 12 Tagen tobt der Krieg in der Ukraine und Oleksandr Chugai fällt es noch immer schwer zu begreifen, was in seiner Heimat da gerade passiert: „Ich sehe in den Nachrichten und den sozialen Medien Panzer und verbrannte Kampfgebiete nur wenige hundert Meter von dem Haus in dem ich aufgewachsen bin, eine Brücke über die ich jeden Tag zur Schule gegangen bin, ist zerstört - das ist alles wie in einem schrecklich schlechten Film“, sagt er. Das Leid der Menschen in der Ukraine - unbeschreiblich.
Chugai ist in Kiew aufgewachsen und erst im Alter von 19 Jahren in die Schweiz gekommen. Er hat an der Zürcher Hochschule der Künste Musik studiert und mit Auszeichnungen abgeschlossen. Der Pianist ist Preisträger von zahlreichen internationalen Klavierwettbewerben. Inzwischen arbeitet er auch als Musiklehrer an der Pädagogischen Mauritätsschule Kreuzlingen. Aber was ist all das wert, in Zeiten eines Krieges?
Die Freundschaften zu russischen Kolleg:innen? „Schwierig gerade“, sagt er.
Oleksandr Chugai hat als Musiker mit vielen internationalen Kolleg:innen gearbeitet. Natürlich auch mit russischen Künstler:innen. Manche wurden Freunde. Aber der Krieg habe auch diese Freundschaften verändert: „Es ist schwer zu ertragen, wenn sie zwar den Krieg verdammen, aber nicht von Putin loslassen. Ich versuche ihnen über die sozialen Medien zu zeigen, was gerade wirklich in meinem Land los ist, aber damit erreiche ich sie kaum“, ist Chugai enttäuscht.
Die Kreml-Propaganda stecke offenbar tief im Kopf vieler Menschen. „Manche sagen, die Ukraine solle einfach aufhören zu kämpfen, dann wäre wieder Frieden. Aber so einfach ist das ja nicht. Wenn die Ukraine jetzt aufhört zu kämpfen, dann ist die freie Ukraine für immer verloren“, sagt der Pianist.
„Wir müssen klare Grenzen setzen und und deutlich sagen: Dieser Krieg muss aufhören!“
Oleksandr Chugai, Musiklehrer an der PMS Kreuzlingen
„Gerade lebe ich nur von Stunde zu Stunde. Dass ich jetzt in Warschau bin hätte ich mir vor 20 Stunden nicht vorstellen können zum Beispiel. Es ist wie ein ständiges Anpassen an neue Realitäten“, sagt Chugai am Telefon. Manchmal gehe es auch nur darum, überhaupt irgendetwas zu tun.
Seit Kriegsbeginn hängt er am Smartphone und verfolgt was in der Ukraine los ist, hält Kontakt zu seinen Eltern und anderen Freunden, die in anderen Teilen des Landes leben. Manche in der Ostukraine zwischen Donzek und Luhansk andere in Odessa. Überall fliegen Raketen, landen Bomben, sterben Menschen.
Oleksandr Chugai war irgendwann klar, dass er mehr machen möchte als zuschauen wie sein Land angegriffen wird. Er möchte ein Zeichen setzen. „Kriege werden nicht von normalen Menschen begonnen, Politiker machen das. Wir als Menschen müssen jetzt Druck ausüben, um zu zeigen, dass wir das nicht wollen. Wir müssen klare Grenzen setzen und deutlich sagen: Dieser Krieg muss aufhören!“
Ukrainische Komponisten erklingen gegen den Krieg
Und er tut dies in einer Form, die ihm möglich ist: Der Musiker hat ein Benefizkonzert organisiert, das am Dienstag, 8. März, in Kreuzlingen stattfinden wird. Gespielt werden Werke von ukrainischen Komponisten wie Sergej Bortkiewicz, Myroslav Skoryk und Matvey Gozenpud. Sämtliche Einnahmen der Kollekte gehen direkt an die Ukraine-Hilfe der Glückskette Schweiz. „Das ist das, was ich tun kann, um meinem Land zu helfen. Ich hoffe, es kommen möglichst viele Menschen und wir können möglichst viel Geld spenden“, sagt Chugai.
Wenn es gut läuft, sind dann auch seine Eltern in Sicherheit. Wenn nicht, will er am Mittwoch wieder nach Warschau reisen, um sie aus dem Krieg zu retten.
Anlaufstelle für Ukraine-Hilfe
Aufgrund des Krieges in der Ukraine hat der Kanton Thurgau die «kantonale Anlaufstelle Ukraine-Hilfe» eingerichtet. Diese ist erreichbar unter Telefon 058 345 91 91 und via E-Mail ukraine-hilfe@tg.ch . Die Hotline ist laut Kanton vorerst während sieben Tagen in der Woche von 8 bis 17.30 Uhr erreichbar.
Die Personen, die die Anrufe entgegennehmen, werden Angebote wie Hilfsgüter für das Krisengebiet und Unterkünfte für Flüchtlinge in einer Datenbank sammeln und mit den zuständigen Stellen koordinieren. Auch Fragen werden aufgenommen und an die Fachstellen weitergeleitet.
Ein weiteres Benefizkonzert für die Ukraine veranstalten die Rotary Clubs aus Kreuzlingen und Konstanz am 1. April um 19:30 Uhr im Kreuzlinger Kulturzentrum Dreispitz. Der Hamburger Konzertpianist Alexander Krichel spielt dann.
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