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von Jeremias Heppeler, 14.05.2020

Ich und ich

Ich und ich
Angst vor Einsamkeit? Oder liegt in der Isolation auch eine Chance auf Kreativität? Nach Wochen der Corona-Auszeit ist unser Autor Jeremias Heppeler ist auf Spurensuche gegangen. | © John Rae Cayabyab/Canva

Kontaktsperre, Isolation, Einsamkeit – all das was wir in den vergangenen Wochen durchlebten, ist für KünstlerInnen oft Alltag in ihrem Schaffen. Ein Essay über Lust und Last des Alleinseins.

Die Überlegungen zum nachfolgenden Text über Isolation begannen - wie sollte es auch anders sein - mit einem Meme auf Twitter. Als die Corona-Quarantäne startete häuften sich auf der Plattform der begrenzten Buchstaben-Zahl nämlich Postings mit dem immergleichen Inhalt: „Did you know that Shakespeare wrote King Lear in quarantine“ („Wusstest du schon, dass Shakespeare König Lear in Quarantäne schrieb?").

Eins vorab: Es ist durchaus möglich (wenn auch nicht final zu beweisen), dass Shakespeare das Stück in Isolation vollendete. Um 1606 kehrte die Pest nach London zurück, wo sie wenige Jahre zuvor etwa ein Zehntel der Bevölkerung dahingerafft hatte. Der Schwarze Tod setzte auch der Theaterkultur zu, die ihre Häuser alternativlos schliessen musste.

Shakespeares Truppe „King´s Men” zog aufs Land, um dort irgendwie aktiv zu bleiben, der Meister selbst aber zog sich zurück. Ins Alleinsein. „King Lear" feierte seine Premiere indes am Boxing Day (sprich am 26. Dezember) desselben Jahres vor den kritischen Augen von König James dem 1. - die Pest war da bereits zurückgedrängt und so scheint es durchaus logisch, dass Shakespeare die Quarantäne vor allem zum Schreiben genutzt hatte. Soweit so gut.

Der doppelte Shakespeare: Artwork von Jeremias Heppeler zu seinem Text.

Der eigene Kopf als einzige Quelle der Ablenkung

Springen wir zurück in die Gegenwart. Abermals Pandemie. Abermals Quarantäne. Jetzt aber mit Social Media. Der scheinbar harmlose Satz reift zum sprudelnden Internet-Phänomen - wird einerseits zum Leit- und Motivationsspruch („Also wenn Shakespeare es schafft, so ein Brett zu zimmern, dann kannst auch du diese Zeit nutzen"), bekommt andererseits aber auch seitens der Millennials einen scheppernde Gegenbewegung ab (Frei nach dem Motto: "Shakespeare hat vielleicht King Lear geschrieben, aber musste er auch im Klopapier kämpfen und seinen Instagram-Account pflegen?").

Im Kern dieser sicher nicht ganz ernsten Debatte materialisiert sich beinahe schüchtern die Frage nach Kunst und Isolation. Was macht es mit einem Künstler, wenn er vom echten Leben abgetrennt wird? Wenn ihm nur der eigene Kopf zur Inspiration und Ablenkung bleibt? Und: Müssten Künstler nicht gerade jetzt vor Produktions-Lust nur so schäumen?

Die grosse Welt im kleinen entdecken: Die Zimmerreise

Tatsächlich hat die gegenwärtige Situation speziell das Internet mit Inhalten überflutet. Künstler haben Zeit. Und die steht ja ohnehin still. Gross- und Langzeitprojekte sind eingefroren. Oder abgesagt. Und dieser luftleere Raum will digital gefüllt werden. Streams. Live-Übertragungen. Online-Galerien. Neue Wege tun sich auf. Überall. Da es eine Menge Überblicke über aktuelle Projekte gibt, soll sich dieser Text historischen Isolations-Situationen widmen.

Auf der Suche im geschichtlichen Dickicht stösst man unweigerlich auf ein Genre, das ebenda, in der Einsamkeit der eigenen vier Wände geprägt und erfunden wurde: Die Zimmerreise. Begründer des Ganzen war der französische Schriftsteller Xavier de Maistre, der aufgrund eine Hausarrests 1790 seine Wohnung nicht verlassen durfte und deshalb zu einer 42-tägigen Reise durch seine vier Wände aufbrach und dabei das Werk „Voyage autour de ma chambre” verfasste.

Xavier de Maistre, der Meister der Zimmerreise. Bild: Von Engraving by Cyprien Jacquemin. Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2726577

 

Die Kraft des poetischen Fleischwolfes

Der Kniff dabei: Die „Reise durch mein Zimmer” erscheint nicht als schnödes Alltagstagebuch oder als aufgeblähte bis blumige Gegenstandsbeschreibung - sondern wie ein Reise- oder Forschungsbericht. Diese waren um 1800 besonders beliebt und so reifte auf de Maistres Werk, das sich gleichermassen total ironisiert, aber eben auch ernsthafte Genreblüte rezipieren lässt, zum Besteller, das viele Nachfolger nach sich zog.

Der Franzose umging mit seiner einfachen, wie genialen Idee die vermeintlich grösste Schranke der Isolation: Der Autor oder Künstler lebt in einer abgeschlossenen Zelle, in dem er nichts wirklich wirkliches erlebt, dass er durch den poetischen Fleischwolf drehen kann. de Maistre nahm das, was da war und machte ebendas zu Literatur.

Auch Anne Franks Tagebuch kann über weite Strecken als eine Art Zimmerreise verstanden werden, auch wenn in diesem Zimmer praktisch die ganze Welt in all ihrer Tragik rotierte. Und genau dieser unerträgliche Umstand macht diesen Text bis heute so lesenswert, aber eben auch so schmerzhaft: Wie das Leben der jungen Frau und ihrer Familie durch blinden und vollkommen sinnbefreiten Hass von aussen immer kleiner und kleiner wird, zusammengefaltet, bis nur das wenige Quadratmeter grosse Versteck bleibt.

Morandi malte was da war. Immer und immer wieder.

Eine unfreiwillige Wahlverwandtschaft zur Zimmerreise findet sich auch im bemerkenswerten Leben und Werk des Malers Giorgio Morandi, der als lebenslanger Junggeselle auch dann noch mit seinen Schwestern zusammenlebte, als er mit seinen Stillleben längst Weltruhm erlangt hatte. Morandis Wohnzimmer war auch Morandis Atelier.

Und der Kunstlehrer, der Bologna nur ein einziges Mal für eine Ausstellung in Winterthur verliess, malte was da war. Immer und immer wieder. Und zwar so virtuos, dass er später als Professor auf den Lehrstuhl für Radierung an der „Accademia di belle arti“ in Bologna berufen und weltweit ausgestellt wurde.

Die wenigsten Kreativen arbeiten komplett autark

An dieser Stelle kommt man nicht drumherum zu fragen, ob der Künstler es überhaupt braucht: Das handfeste Erlebnis. Am eigenen Leib. Oder ob es nicht gerade seine Aufgabe ist, dieses Erlebnis aus dem Nichts heraus zu kreieren. Fest steht: Die wenigsten Kreativen schaffen es autark vom wirklichen Leben zu arbeiten.

Die Verzahnungen erfolgen zwangsläufig auf vielerlei Ebenen. Und natürlich braucht ein Künstler Aufführungsorte. Öffentliche Räume, die er füllen kann. Umschreiben kann. Oder anders: Shakespeare hätte noch 200 Meisterwerke schreiben können, ohne Theater wären sie im Verborgenen geblieben.

Beuys und die Freiheit des Bewusstseins

Bemerkenswert in diesem Kontext sind auch die Aussagen von Joseph Beuys aus dem Jahre 1985, im Zuge der Aufzeichnung „Frühstücksgespräch”: „Die Möglichkeiten zur Freiheit sind immer gegeben. Das heisst was Schiller gesagt hat, ist ein objektives Gesetz: Der Mensch ist frei und wäre er in Ketten geboren. Das heisst die aufwändige Freiheit hat mit der Freiheit ja gar nichts zu tun. Ob ein Mensch im Gefängnis sitzt oder in Ketten liegt oder sehr stark behindert wird durch eine sehr schwere Krankheit ist, ob er schön oder hässlich ist, ob er schnell oder laufen rennen kann, das sind ja letztendlich zwar Hinderungen. Aber es sind keine Behinderungen der Freiheit. Die Freiheit ist das Anwachsen des menschlichen Bewusstseins. Das heisst die Freiheit ist ein Bewusstseinsprozess.”

Apropos in Ketten: Wir müssen über Christian Friedrich Daniel Schubart sprechen. Das vergessene Genie der deutschsprachigen Literatur. Und viel mehr. Multitalent. Komponist. Organist. Journalist. Autor. Alles gleichzeitig. 1739 geboren als Sohn eines Pfarrvikars, 30 Jahre später an den württembergischen Hof berufen als Musikdirektor. Was für eine Ehre!

Der Kampfeseifer von Christian Friedrich Daniel Schubart

Doch Schubart war kein Duckmäuser oder Speichellecker. Im Gegenteil: Der Vollblutschwabe provozierte den Adel mit seinem ausschweifenden Lebensstil, mit mangelnden Respekt und permanenter Kritik an der Geistlichkeit und am von Herzog Carl Eugen gelebten Absolutismus. Letzterer verbannte ihn schon bald aus dem Herzogtum, doch das Exil befeuerte Schubarts Kampfeseifer nur noch weiter.

Seine Zeitschrift „Teutsche Chronik” wurde zur Kampfschrift und als er Carl Eugens Mätresse Franziska von Hohenheim als „Lichtputze, die glimmt und stinkt“ beschrieb, da brachte er das Fass wohl endgültig zum überlaufen. Der geniale Rebell wurde auf württembergischen Boden gelockt, festgesetzt und ohne Prozess ins Gefängnis geworfen. Für 10 Jahre.

Erstdruck der Autobiographie Schubarts 1791. Bild: H.-P.Haack, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7648495

 

Ein grosses Werk kann auch in Gefangenschaft und Isolation wachsen

Da sass er jetzt, auf dem Hohenasperg, der geistliche Staatsfeind Nummer Eins. Die ersten Monate war die Isolation vollkommen. Kein Besuch. Kein Lesen. Kein Schreiben. Später dann Umerziehungsmassnahmen, die sich nur oberflächlich in reumütigen Gedichten widerspiegeln. Doch schlussendlich, das zeigt der Blick in Schubarts Werk und in seine Autobiografie, blieben die Versuche ihn zu brechen zwecklos.

Schrittweise gewöhnte er sich an sein Schicksal, schrittweise begann er wieder zu arbeiten. Zig Lieder entstehen (unter anderem „Die Forelle”, die später kongenial von Franz Schubert vertont wurde), dazu sozialkritische Texte und politische Gedichte. Als er 1787 aus der Gefangenschaft entlassen wird, hat Schubart ein brachiales Lebenswerk zusammen gebaut.

Vermutlich gibt es unterm Strich zwei Arten von KünstlerInnen. Derjenige, der es schafft, in der Isolation produktiv zu sein. Ob gut oder schlecht, das sei dahin gestellt. Und derjenige, der es nicht kann. Diese Einschätzung ist zunächst einmal wertfrei. Kreativität lässt sich nicht steuern. Sie zündet. Oder sie zündet nicht.

«Kreativität lässt sich nicht steuern. Sie zündet. Oder sie zündet nicht.»

Jeremias Heppeler, Autor und Künstler

Inspiration erscheint vor diesem Hintergrund zumindest ein Stück weit als Mythos. Wenn das weisse Blatt vor dir liegt. Leer. Ewig. Dann kannst du zigtausend motivierende Texte einverleiben. Dann kannst du die faszinierendste Musik hören und die komplexesten Filme schauen. Es bringt dir nichts, das Weiss wird dich immer wieder einholen. Immer wieder umschliessen.  Das ist die Gefahr, die Angst, die jeden Künstler heimsucht.

Und klar, der Geist ist frei. Immer. Da hat Beuys schon recht. Aber auch er kennt vielerlei Hemmungen. Vermutlich noch viele mehr als der Körper. Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek begab sich 1967, kurz nach ihrem Matura und ihrer Einschreibung an der Universität Wien aufgrund von massiven Angstzuständen in ein Jahr freiwilligen, aber auch vollkommenen Isolation im Haus ihrer Eltern.

Mag das Alleinsein: Die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Bild: Übertragen aus en.wikipedia nach Commons., CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29392187

 

Die freiwillige Isolation der Elfriede Jelinek

Hier, in diesem für sie vermeintlich abgesicherten Rahmen, fernab der erdrückenden Last des Lebens, fand sie erstmals die Kraft zu Schreiben und ihre ersten Gedichte wurden in kleinen Verlagen gedruckt. Der Grundstein für eine beispiellose Karriere als Schriftstellerin. (Witzigerweise war es dann auch Elfriede Jelinek, die auf eine Umfrage der Zeit, die verschiedene KünsterInnen fragte, woran sie denn während der Quarantäne arbeiten würden, trocken antwortete: “Ich arbeite an überhaupt nichts.”)

Im Übrigen kann im Umkehrschluss auch der stinknormale Alltag, das also, was den meisten von uns gerade so entscheidend fehlt, hemmen. Und wie. Vermutlich gibt es nichts, was mehr Künstlerkarrieren tötet als Alltag. Als das normale Leben. Mit all seinen Parametern. Das fängt beim Geld verdienen an. Und hört beim Geld verdienen auf. Und dazwischen?

Wie das schöne Leben die Kunst frisst

Ein Künstler, der isst, lebt, feiert, liebt, sich sorgt, sich freut, geniesst, hasst, dem fehlt eine Menge Zeit um Kunst zu machen. Das einfache, das schöne Leben, auch das frisst Kunst, für die es sich doch irgendwie aufzuopfern gilt. Wieder andere verstehen Kunst als harte Arbeit. Schreibtisch-Job. Frühmorgens aufstehen. Schreiben, Malen, Schneiden, Musik machen, bis zum festgelegten Feierabend. Wie Nick Cave. Wie Boris Blank von Yello. Jeder einzelne hat seinen eigenen Rhythmus, nach dem er schlägt und tanzt. Nach dem er schafft. Es gibt keine Patentlösung. Du kannst das nicht lernen. Niemals.

Schlussendlich kann es uns also egal sein, ob Shakespeare „King Lear“ in Quarantäne geschrieben hat. Oder auf einer Karibikinsel. Oder ob es ihn, diesen Überautor überhaupt gab. Das Werk ist da. Jemand hat es geschrieben. Das ist was zählt. So grundlegend. So einfach. Und wir, wir leben und arbeiten alle nach unseren eigenen Parametern. Und das Scheitern, das gehört als elementarer Taktgeber zur Kunst dazu. Zum Prozess. Wir müssen es zulassen. Zulassen dürfen. Gerade jetzt. Mehr denn je.

 

 

 

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