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Im Kopf von Aby Warburg

Im Kopf von Aby Warburg
Wer ist hier Psychiater? Wer ist Patient? Die Grenzen verschwimmen im Laufe des Stücks. Im Bild erklärt Aby Warburg (Julian Härtner) Ludwig Binswanger (Georg Melich) eine seiner Visionen. | © Theater Konstanz/Bjørn Jansen

Das Theater Konstanz bringt die verstörende Geschichte von Aby Warburg auf die Bühne des Kreuzlinger Kult-X. Der Wucht des Themas wird die Inszenierung nur in Ansätzen gerecht.

Von Michael Lünstroth

Nein, man kann nicht sagen, dass diese Inszenierung besonders subtil startete: Aus den Lautsprechern dröhnen die Bässe wie Hammerschläge auf den Kopf, auf dem Stuhl krümmt sich eine Person in Schlafanzughose und Jackett, auf dem Kopf ein weisser Motorradhelm - offenbar gepeinigt, ja, von was, eigentlich? Der hämmernden Musik? Den Dämonen in seinem Kopf? So wie er sich immer wieder an seinem Kopf fasst, muss es wohl eher etwas mit seinem Geisteszustand zu haben. Umringt ist er von spiegelartigen Plexiglasscheiben (Ausstattung: Elena Bulochnikova), die beschriftet sind mit allerlei Gekritzel, Totenkreuzen und immer wieder taucht der Name Ellen West auf. Ein erster Hinweis: Ellen West ist der Name einer Patientin des im Kreuzlinger Sanatoriums wirkenden Psychiaters Ludwig Binswanger. Der Fall ist bestens dokumentiert, Binswanger nutzte ihn um seine Therapieform zu veranschaulichen. Als Erfolgsfall taugt er indes nicht: Binswanger entliess seine Patientin am 30. März 1921, wenige Tage später nahm sie sich das Leben. 

Diese Erwähnung setzt auch den Ton des weiteren Stücks. Es geht hier auch um das Scheitern. Das Scheitern an den eigenen Ansprüchen. Das Scheitern an der Welt. Knapp zwei Wochen nachdem Ellen West das Sanatorium Bellevue verlässt, trifft Aby Warburg in der Klinik ein. Er war „zerbrochen am Zerbrechen der Welt“, wie es in dem Stück von Gerd Zahner heisst, das das Theater Konstanz nun in der Regie von Oliver Vorwerk im Kreuzlinger Kult-X auf die Bühne gebracht hat. Die Ereignisse des Ersten Weltkriegs hatten sein Innerstes erschüttert. So sehr, dass er sich in den letzten Tagen des Krieges in seinem Haus in Hamburg von herannahenden Bolschewiken oder auch Antisemiten verfolgt gefühlt, eine Pistole ergreift, um damit seine Familie zu töten. Dazu kam es dann aber nicht. Über Anstalten in Hamburg und Jena landet Warburg schliesslich in Kreuzlingen. Geplagt von brutalen Wahnideen bleibt er auch in Bellevue. Wie jener, seine Angehörigen würden in den Nachbargebäuden gefangen gehalten, gefoltert, getötet, zerstückelt und ihm als Speise gereicht. 

Traum, Wahrheit, Wahnsinn, Hellsichtigkeit, die Ebenen verschwimmen

Dieser Aby Warburg, der später einer der bedeutenden Kunstwissenschaftler werden sollte, war im Leben kein Sympathieträger und er ist es auch nicht im Stück von Oliver Vorwerk. Unbeherrscht, wüst, aufdringlich, gewalttätig - Julian Härtner lässt als Aby Warburg keinen Zweifel an der negativen Komplexität seiner Figur. Die Inszenierung erzählt im Wesentlichen vor allem den Kampf zwischen Psychiater Ludwig Binswanger (Georg Melich, maliziös bis verzweifelt) und eben Warburg. Die Kulisse ist geprägt von fensterhohen Zeichnungen, die an Warburgs Bilderatlas Mnemosyne erinnern sollen. Mit diesem Atlas wollte er die Welt und ihre Zusammenhänge neu erklären. Zu den Männern gesellt sich die zwischen Unschuld und Todesengel changierende Krankenschwester Sonja Kreis (Anny De Silva). Im Zentrum stehen aber die beiden Männer. Ihr Tänzeln umeinander, ihr Ringen miteinander, das ist auch der Kampf um das, was Wahrheit ist. Oder besser gesagt um das, was wir für wahr halten. Traum, Wahrheit, Wahnsinn, Hellsichtigkeit, die Ebenen verschwimmen, Regisseur Oliver Vorwerk hält die Spannung in der 60-minütigen Aufführung zwischen diesen Polen bewusst aufrecht. 

Ein Löffel Linsen: Nicht nur die Speisevorlieben von Aby Warburg (Julian Härtner) sind speziell. Mit im Bild Schwester Sonja Kreis (Anny de Silva) und Ludwig Binswanger (Georg Melich).Ein Löffel Linsen: Nicht nur die Speisevorlieben von Aby Warburg (Julian Härtner) sind speziell. Mit im Bild Schwester Sonja Kreis (Anny de Silva) und Ludwig Binswanger (Georg Melich). Bild: Theater Konstanz/Bjørn Jansen

Manchmal macht er das nicht ganz konsequent. Wenn einerseits die Grenzen der Wahrnehmungszustände fliessend sind, andererseits Binswanger und Kreis aber immer auffällige Verrenkungen unternehme müssen, um in das Zimmer von Warburg einsteigen zu können. Aber vielleicht passt das auch konzeptuell ganz gut zu einer Arbeit, in der nichts als sicher gelten kann, sondern alles so oder so oder gar so und so sein kann. Die Inszenierung versucht dem mit - auch dem Spielort geschuldeten - einfachen Mitteln gerecht zu werden. Das klappt mal besser, mal schlechter. Hübsch zum Beispiel die lokale Anbindung des Stoffes:  Um Aby Warburg zum Propheten zu stilisieren, wird auch die Geschichte des Ortes bemüht: „Das Bellevue wird abgerissen, und so selbstverständlich wie in den schönsten Leuchtern elektrische Kerzen Wachskerzen ersetzen, werden morgen Garagen und teure Wohnhäuser die kleinen Villen der Patienten ersetzen. Und die neuen Mieter jagen die Kranken davon. Das träumte ich letzte Nacht. Die Schweiz wird von allen Kranken geräumt“ fabuliert Warburg zu Beginn des Stückes. Jetzt sind auch die Kritiker der Kreuzlinger Stadtentwicklung an Bord. 

Die Inszenierung erlaubt kein Abtauchen, aber auch kaum Einfühlen

Aber: Als traute Oliver Vorwerk der Wucht des Themas und des Textes nicht so ganz, holt er die Zuschauer zur Mitte des Stücks in die Handlung hinein und platziert sie in das Behandlungszimmer von Warburg. Aus der Nähe kann man nun einen Dialog zwischen Psychiater und Patient beobachten. Aber auch das ändert nichts an der Grundhaltung des Stücks: Das Licht bleibt an, die Zuschauer bleiben Zuschauer, die Schauspieler bleiben Schauspieler, die Rollen spielen. Dramaturgisch ist das eine Stärke, weil es niemanden abtauchen lässt in etwas, das nicht auch zu ihm gehört. Weil es niemandem erlaubt, die Geschehnisse von sich selbst zu lösen. Mit anderen Worten: Der Kopf bleibt immer an. Für das emotionale Theatererlebnis an sich ist es eine Schwäche, weil einen das Ganze trotz aller Bemühungen doch einigermassen unberührt zurücklässt. 

Am Text von Gerd Zahner liegt es nicht. In ihm finden sich allerlei schöne Bilder, wie jenes vom Schmetterling im trojanischen Pferd: „Er verfing sich an Odysseus lockigem Haar und wurde so mit hinein getragen, und der Schmetterling trommelte mit seinen Flügeln von innen gegen die hölzerne Wand des Pferdes, schreien konnte er ja nicht, Troja zu warnen, aber sie hörten ihn nicht.“ Spätestens jetzt ist klar, dass Zahner auch Warburg als Schmetterling sieht - dessen Warnungen vor dem NS-Terror hätte ja auch niemand gehört oder hören wollen. Zahner macht Aby Warburg zu einem tragischen Helden kassandrischen Ausmasses. Das ist eine Deutung des Autors. Historiker könnten da anderer Meinung sein. Aber wer Zahner-Stücke kennt, weiss, dass er dort kein dokumentarisches Theater erwarten darf. Bei Zahner geht es immer um die Analyse und Dekonstruktion von Mustern, die Entschlüsselung menschlichen Handelns an Fallbeispielen.

Was Zahners Text verspricht, kann die Inszenierung an diesem Abend nur in Teilen einlösen.

Termine: "Aby Warburg - Gespräche mit einem Nachtfalter" ist am 25./31.März; 5./6./12./13./27. und 28. April erneut im Kult-X (Hafenstrasse 8) zu sehen. Beginn jeweils 20 Uhr. Tickets für alle Aufführungen gibt es hier: http://www.theaterkonstanz.de/tkn/veranstaltung/09028/index.html  

In seiner eigenen Welt: Aby Warburg (Julian Härtner) in einer Vision. Ludwig Binswanger (Georg Melich) und Sonja Kreis (Anny de Silva) hören zu.In seiner eigenen Welt: Aby Warburg (Julian Härtner) in einer Vision. Ludwig Binswanger (Georg Melich) und Sonja Kreis (Anny de Silva) hören zu. Bild: Theater Konstanz/Bjorn Jansen

 

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