von Inka Grabowsky, 14.10.2015
Ins Netz gegangen

Für einmal waren Laptop und Beamer im altehrwürdigen Bodman-Haus unerlässlich. Susanne Berkenheger, die Pionierin der Netzliteratur, las in Gottlieben aus ihrem multilinearen Text „Zeit für die Bombe“.
Leseratten müssen sich seit rund zwanzig Jahren an neue Vokabeln gewöhnen: „Multilinear“ gehört dazu. Im Internet können Autoren ihre Geschichten gleichzeitig aus mehreren Perspektiven erzählen. Der Leser klickt eine Schaltfläche – neudeutsch einen „Hyperlink“ – an, und schon erlebt er das geschilderte Geschehen anders.
Das Publikum im Literaturhaus verstand den Reiz dieser Technik schnell. Die Autorin hatte eine Computer-Funkmaus durch die Reihen gehen lassen. „Das ist quasi meine Fernbedienung“, sagte sie. „Sobald ich beim Vorlesen auf einen Link stosse, können Sie mich leiten. Wenn Sie ihn anklicken Sie, lese ich auf einer anderen Textebene weiter.“
"Zeit für die Bombe" - und den Hypertext. Susanne Berkenheger vor der Lesung. (Bilder: Inka Grabowsky)
Hype und Hypertext
Jeder Knopf, den man drücken kann, wird auch gedrückt. Höchst diszipliniert gehorcht die Vorleserin den digitalen Anweisungen. Sie bricht mitten im Satz ab, wenn der Befehl zum Wechseln der Seite etwas früh kommt. Entscheidet sich niemand, wiederholt sie die letzten Worte wieder und wieder, bis der erlösende Klick erfolgt. Am Ende hörten die Neugierigen mit grossen Vergnügen zwei Drittel alle möglichen Textseiten, einige davon mehrfach.
Berkenheger und ihr Avatar berichten aus dem inzwischen fast ausgestorbenen Second Life.
Kommentare des Erzählers wie „ Was wollt ihr hier schon wieder“, sind vorprogrammiert. Der Inhalt der Geschichte von mehreren Charakteren, die in Moskau nach einer Zeitbombe suchen, gerät über das Spektakel etwas in den Hintergrund. Hypertexte sind ein Spiel und ein Spass, so scheint es. Ernsthaft davon leben könne man jedenfalls nicht, so die Autorin. „Ich schreibe für Spiegel Online satirische Texte und ausserdem konventionelle, papiernere Bücher.“ Der Hype um die Hypertexte sei ebenso abgeflaut wie die Angst der Verlage vor einer revolutionären Technik.
Nachruf auf „Second Life“
Im zweiten Beispiel für Netzliteratur macht Berkenheger ihr Publikum mit „Second Life“ vertraut. Das Internet-Portal, das vor rund zehn Jahren einen Boom erlebte, ist ein wenig in Vergessenheit geraten. „Viele User, die sich dort einen Avatar geschaffen hatten, besuchen die Seite kaum noch. Sie sind Accountleichen – und deshalb habe ich die Accountleichenbewegung gegründet.“
Berkenheger im Gespräch mit Annette Hug vom Literaturhaus.
Berkenhegers eigener Avatar erzählt online (und mit der leibhaftigen Stimme des Accounthalters) wie ausgestorben seine Welt inzwischen ist und wie man sich als armer Avatar dabei fühlt. „An der Bewegung haben tatsächlich auch ein paar befreundete Avatare teilgenommen“, so die Internet-Künstlerin. „Und wir hatten insofern Erfolg, als dass es die virtuelle Welt allen Unkenrufen zum Trotz immer noch gibt.“
Info
Über www.berkenheger.de kommt man auf diverse Texte von Susanne Berkenheger.
Auf www.wargla.de/zeit.htm gibt es den Quelltext zu „Zeit für die Bombe“ zum selbst Ausprobieren.
Die nächste Veranstaltung im Literaturhaus am 20. Oktober wird sich erneut mit der Zukunft des Lesens auseinandersetzen, dieses Mal aus Sicht von Bibliothekaren.

Von Inka Grabowsky
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