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von Patrick Manzecchi, 08.10.2018

Musikalischer Frühling im Jazzherbst

Musikalischer Frühling im Jazzherbst
Gehört einer neuen Generation an, die hörbar mit der Rockmusik der 1970er Jahre gross geworden ist: Der Finne Kalle Kalima. | © Stefan Postius

Beim Konstanzer Jazzherbst war in diesem Jahr der Finne Kalle Kalima Artist in Residence. Er bewies, weshalb er derzeit als einer der spannendsten Vertreter der europäischen Jazz-Szene gilt.

Das Abschlusskonzert des diesjährigen Konstanzer Jazzherbst rundete auf wundersame Weise eine spannende Woche ab, in der es wie langjährig gewohnt zeitgenössische Gruppen zu geniessen gab. Als Artist in Residence hatte man den finnischen, in Berlin lebenden, Gitarristen und Komponisten Kalle Kalima verpflichtet, der dieses letzte Konzert im Duo mit dem Schlagzeuger Christian Lillinger improvisatorisch eröffnete im Kulturzentrum am Münster. Und gäbe es ihn nicht schon, man müsste ihn erfinden: ihn, der derzeit zu den angesagtesten Schlagzeuger Deutschlands gehört. Mit einer unbändigen Energie, die ihresgleichen sucht, jedoch stets mit Geschmack und einer Palette perkussiver Ideen, die an Jim Black oder Paul Lovens und zuweilen sogar an Tony Williams erinnern.

Frisch und wagemutig, und über Strecken vorwärtstreibend in einer Sprache, die immer wieder Drum‘n‘Bass-Elemente beinhaltet, bewundert man auch visuell dessen Mimik und Gestus beim Entwickeln unerhörter Akzente und Klangflächen. Während Lucas Niggli, der bekannte Schweizer Schlagzeuger am Eröffnungskonzert im K9 geschlossener und disziplinierter, aber nicht weniger energiegeladen interagierte mit Kalima, hatte man den Eindruck, dass Lillinger viel Raum einnimmt, was aber hör- und sichtbar verdeutlicht, dass Konstellationen dieser Art auch immer musikalische Diskussionen aufs Neuste generieren. Kalima gewohnt lässig, sprachgewandt und souverän, indem er sich voll auf den Diskurs mit Lillinger einlässt. Auch wenn man das gesamte Vokabular der e-Gitarre zu hören bekommt, haben Gimmicks und Effekthascherei keinen Platz bei Kalima.

Zählt zu den angesagtesten Schlagzeugern Deutschlands derzeit: Christian Lillinger beim Konzert mit Kalle Kalima (im Bild links vorne)  in Konstanz.
Zählt zu den angesagtesten Schlagzeugern Deutschlands derzeit: Christian Lillinger beim Konzert mit Kalle Kalima (im Bild links vorne) in Konstanz. Bild: Stefan Postius

 

Kalima trifft auf Streicherensemble

Nach dieser starken Ansage wurden die Zuschauer mit einem weiteren Experiment bedacht, nämlich der Begegnung zwischen Kalima und dem Streicherensemble der Südwestdeutschen Philharmonie Konstanz unter der Leitung des Dirigenten Hannes Reich, bestehend aus vier ersten und vier weiteren zweiten Geigen, drei Bratschen, zwei Celli und einem Kontrabass. Kalima hatte eigens eine aus fünf Sätzen bestehenden Komposition arrangiert, die er mit „Louhi“ betitelt. Sie, Louhi, ist eine Hexe aus der finnischen Mythologie. Laut Kalevala, dem aus dem 19 Jahrhundert stammenden Epos, besitzt sie magische Fähigkeiten und herrscht über das Nordland Pohjola.

Nach nur einer Probe sieht man über die geringen Startschwierigkeiten hinweg, die bereits im zweiten Satz weitestgehend vorbei sind. Unter der aufmerksamen Führung Reichs kann Kalima bald erste Akzente geschickt platzieren als Solist. Der dritte Satz im 5/4-Takt wird von einem starken Generalbass getragen, überhaupt erinnert dieser Satz an eine üblicherweise in drei gehaltene Passacaglia, wie auch das gesamte Werk strukturell durchaus an eine Suite aus dem Barockzeitalter erinnert trotz Anleihen aus der Neuen Musik. Nach einem melancholisch getragenem vierten Satz – und unweigerlich werden Erinnerung wach an Jan Akkermann und Claus Ogermann - schliesst das Werk lebendig ab mit einem hochkonzentrierten fünften Satz. Kalima wagt eine lobenswerte, weil zeitgenössische Auseinandersetzung verschiedenster Stilarten mit seinem polyphonen Kleinod. Volle Begeisterung im Publikum.

Mischte auch mit: Das Streicherensemble der Südwestdeutschen Philharmonie unter der Leitung von Hannes Reich
Mischte auch mit: Das Streicherensemble der Südwestdeutschen Philharmonie unter der Leitung von Hannes Reich. Bild: Stefan Postius

 

Es entsteht eine spannende Mixtur aus Neuer Musik und Jam Session

Nach einer Pause gesellen sich Kalima und Lillinger zum Konstanzer Vibrafonisten Ralf Kleinehanding, der auch verantwortlich zeichnet als Veranstalter der High Noon-Konzerte für Neue Musik. Zu Gehör kommen Kleinehandings Miniaturen, derer sind es fünf, die er bereits am ersten Festivalabend in anderer Besetzung vorstellen konnte. Hier trifft er nun auf zwei Crossover-Spezialisten, die ihn aufs Höchste inspirieren, Kleinehanding läuft zur Hochform auf, spielt seine Werke noch leidenschaftlicher als am Eröffnungsabend, und Kalima und Lillinger unterstützen ihn auf bestmögliche Weise. Während Kalima seine schwierigen Passagen auf beeindruckende Weise meistert, konterkariert Lillinger die grösstenteils ungeraden Taktarten, indem er sie mitunter mit schweren Gospelrhythmen unterlegt, so ähnlich wie es ein Chris Dave gerne macht. Kleinehanding wartet ebenfalls mit experimentellen Techniken auf und heraus kommt eine spannende Mixtur aus Neuer Musik und Jam Session.

Die lautstarke Forderung nach einer Zugabe weicht jedoch wie geplant der Konstellation Kalima/Streicherensemble. Den „Keskellä Blues“ des finnischen Komponisten Eero Hämeenniemi übersetzt Kalima sinngemäss mit „In the heart of things“. Nun spielt das Ensemble kompakter und direkter, was einerseits der Klarheit des Werkes geschuldet ist. Andererseits blüht das Orchester förmlich auf unter der zupackenden Führung von Hannes Reich. In drei Teilen aufgebaut kommt ein Moll-Blues im Mittelteil besonders swingend im 3/4-Takt daher, was das hartnäckige Préjugé gründlich widerlegt, Klassiker hätten kein Rhythmusgefühl. Auffällig leidenschaftlich hierbei der Cellist Eldar Saparayev, während Kalima wie gewohnt rockig soliert. Überhaupt ist Kalima deutlich beeinflusst von Jimi Hendrix und John McLaughlin. Er gehört einer neuen Generation an, die hörbar mit der Rockmusik der 1970er Jahre gross geworden ist, aber auch die Auseinandersetzung mit Jazz und der Neuen Musik nicht scheut.

Ein Glücksfall, ihn gewonnen zu haben für dieses aussergewöhnliche Festival.  Der Jazzclub Konstanz hat wieder einmal musikalische Synergien höchster Qualität geschaffen. 

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