Sadismus mit der Moralkeule

Der deutsche Kabarettist Hagen Rether besuchte am Donnerstag Abend das Festival Kabarett in Kreuzlingen. Rethers Programm heisst «Liebe» – doch statt Küssen gibt's Dominanzspiele mit der Moralkeule.
David Nägeli
Ein Abend mit Hagen Rether ist nur etwas für Masochisten. «Liebe» heisst sein Soloprogramm – seit 13 Jahren bereits. Und wer an Rethers Liebe teilhaben will, muss Schmerz ertragen können. Einerseits im Sitzfleisch, denn Rether kann lange «Liebe» machen. Andererseits da, wo es vielleicht fast noch mehr weh tut: In der Überzeugung, ein guter Mensch zu sein.
Wenn sich der Kabarettist mit dem Pferdeschwanz lässig im Bürostuhl hin und her dreht und die westliche Gesellschaft dekonstruiert, bleibt niemand verschont. Weder die «linksliberalen Multikulti-Öko-Spinner», noch die konservativen Christen – mit einem leicht süffisanten, leicht resignierten Lächeln lässt Rether in «Liebe» etwas Hass auf unsere Gesellschaft entstehen.
Ein ruhiges Vorspiel
Doch – selbst bei Rether – beginnt die «Liebe» zärtlich: Mit Gewetter über das Bildungssystem, übers Frühaufstehen («Das machen wir nur wegen den Preussen. Doch die sind tot!») und darüber, dass «Der Hobbit» einem ISIS-Propagandafilm gleicht: Die bösen Elfen gegen die schlechten Orks. Bis zu diesem Zeitpunkt lachen die Menschen im vollen Dreispitz noch gemeinsam. Doch das ändert sich noch.
Rether seziert die Gesellschaft mit süffisantem Grinsen.
Als Rether das erste Mal das Flüchtlingsthema anschneidet, wird es spürbar ruhiger Raum. Schliesslich zerstritten sich die letzten Wochen Familien über ihre Stimmzettel und Rether stochert gerne in offenen Wunden: «Unsere Schuhe werden von Menschen gemacht, die selbst keine anhaben», sagt er. «Und wenn sie dann zu uns kommen, zünden wir ihnen die Häuser an. Macht ihr das auch?», fragt er. Und als keine Antwort kommt: «Das ist eben diese stille Schonhaltung der Schweiz: Fresse halten, Geld zählen.»
Heiss-und-Kalt-Spielchen
Natürlich geht's auch den ökologisch bedachten Menschen an den Kragen: «Man geht sich ein wenig bei einer Ayurveda-Kur in Indien erholen, fliegt nach Hause und protestiert dann gegen mangelnde Öko-Politik», sagt er. Die einen verdrehen die Augen, die anderen lachen. Wenige Minuten später dreht sich der Spiess. Rethers «Liebe» ist eine Achterbahnfahrt: Ich mag dich, ich mag dich nicht, ich mag dich… Ein fieses Spiel der Verführung, das süchtig macht.
Rether ist nicht nur ein Meister dieser Heiss-und-Kalt-Spielchen – auch Kabarett kann er. Obwohl er während seines Programmes nur zwei, drei Mal die wenigen Meter mit dem Bürostuhl zum Klavier rollt (um da ein bitterböses «Vater unser…» vorzutragen), wird das über zweistündige Programm nicht langweilig. Ernstgemeinte Fragen («Was macht man mit so einer Gesellschaft?») ziehen sich genau so durchs Programm, wie auch Witze über Wutbürger, die einem «Scheisse geparkt!»-Zettel ans Auto kleben.
Unausgesprochenes ansprechen
Zwischendrin lässt einem Rether eine kurze Verschnaufpause und deutet an, dass es vielleicht doch noch ein wenig Hoffnung geben könne: «Wir brauchen Selbstverantwortung statt Moral», sagt er, dann könne man das noch hinkriegen. Nur um danach noch härter zuzuschlagen: «Unsere Frauenhäuser platzen aus allen Nähten. Hier im Saal hatten statistisch gesehen 35 Frauen Probleme mit sexueller Gewalt. Und die Täter sitzen ebenfalls hier», sagt er. «Wenn man also nach der Silvesternacht in Köln fordert, mehr Ausländer auszuschaffen, heisst das doch nur: <Wir wollen unsere Frauen selbst vergewaltigen>.»
Schlussendlich hat ein Abend mit Hagen Rether viel gemeinsam mit «Fifty Shades of Gray»: Rether ist Christan Gray, der attraktive Typ im Anzug auf dem Bürostuhl, der einem mit fiesen Worten verunsichert und danach mit Cleverness in seinen Bann zieht. Und wenn es dann Zeit wird, um «Liebe» zu machen, packt Rether die Folterinstrumente aus und flüstert einem die ganze Nacht lang süffisant ins Ohr: Du warst ein böser, böser Bube.
Sadismus mit Moralkeule
*Was bleibt:
Als Rether über das Flüchtlingsthema, brennende Asylheime und die Durchsetzungsinitiative spricht, spürt man im Dreispitz eine angespannte Haltung. Ziemlich trocken wettert Rether über Ausländerfeindlichkeit und in meiner Nähe nimmt sich ein Paar gegenseitig an der Hand, schüttelt die Köpfe und hört merkbar weg. Auch wenn Rether selbst dem Zynismus verfallen ist, versucht er doch die Menschen durch das Ansprechen von brisanten Themen die Selbstverantwortung und den kritischen Geist zu wecken. Schade, dass viele die Tendenz haben, nur dann hinhören, wenn sie in ihrer Meinung bestätigt werden.
*** In unserer neuen Reihe "Was bleibt..." sammeln wir alle Eindrücke, Lehren, Gedankenschätze und auch kritische Beobachtungen, die unsere KorrespontentInnen von den Veranstaltugnen zurück mit in die Redaktion bringen.
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KOMMENTAR *
von Brigitte Ulusoy・vor einem Jahr
Guten Abend,
Ihre Aufforderung zur Stellungnahme zur Kritik von David Nägeli nehme ich gerne in Anspruch, denn ich habe den Abend tatsächlich völlig anderes empfunden.
Hagen Rether: Liebe? - Hagen Rether: Liebe!
Ja, ich war am letzten Donnerstag auch im Dreispitz, Kreuzlingen bei Hagen Rether.
Ich hätte diesem Mann und begnadeten Kaberettisten über drei Stunden lang - ja solange dauerte sein Programm tatsächlich - immer nur applaudieren können.
Was hat die Wahrheit aussprechen mit Dominanzspielen und Moralkeulen zu tun? "Verstehe ich nicht," würde Hagen Rether mit Recht sagen.
Er hat die ganze Zeit über die - zugegeben manchmal unbequeme - Wahrheit, und nichts als die Wahrheit, gesagt.
Und mir bei allem aus dem Herzen gesprochen, sei es bei der Flüchtlingsfrage, der Kinderarbeit, der ganzen Ungerechtigkeit auf der Welt bis hin zu unserem Essverhalten.
Ich denke für diesen Kaberettisten wäre es ein Leichtes - wie es andere seines Metiers tun - 1 1/2 Stunden lang mit witzigen Sprüchen und unterhaltsamen Liedern, begleitet auf dem Flügel, unsere Lachmuskeln zu strapazieren, bestens zu unterhalten, und uns wohlgemut und beschwingt zu entlassen. Und anschliessend wäre sogar noch Zeit für einen Drink in der Stammbeiz. Das wäre für ihn so einfach. Er aber tut etwas völlig anderes, er bezieht Stellung, deckt Missstände auf und hält uns den Spiegel vor. Macht sich damit bei weiten Kreisen unbeliebt und setzt sich Kritik und Anfeindungen aus.
Warum macht er das? Ich kann es Euch sagen: Aus Liebe! Natürlich nicht aus der romantischen Liebe, die auf Küsse aus ist, sondern aus Liebe zu unserer wunderbaren Erde, zur Natur, zu den Minderheiten, zu den Unterdrückten, letzthin aber auch aus Liebe zu sich selbst und zu uns allen. Denn schliesslich wird es uns alle treffen. Wenn wir unsere Biosphäre zerstören, zerstören wir die Lebensgrundlage des ganzen Planeten. Dies machen wir in erster Linie durch die Massentierhaltung sprich durch den übertriebenen Fleisch- und Tierprodukte-Konsum. Der längere Exkurs in diese Problematik, die für Hagen Rether an vorderster Stelle steht, kam in der Kritik von David Nägeli leider überhaupt nicht zur Sprache. Hagen Rether hat eine Mission. Er will sein Publikum aufrütteln, ihm die Augen öffnen. Ein anderer mit seinen Überzeugungen schriebe vielleicht ein Buch, hielte Vorträge oder ginge in die Politik. Er aber benützt seine kaberettistische Gabe, um seine Ansichten zu verbreiten. Was das mit einem Sadomaso- und/oder Softporno-Filmchen - pardon ich habe den Film, der eben eine ganze Anzahl Himbeeren für den schlechtesten Film des Jahres erhalten hat - nicht gesehen.
Ich weiss auch nicht, warum man gemäss David Nägeli ein Masochist sein muss, um Hagen Rethers Vortrag zu geniessen. Ein mir bekannter Künstler hat mir einmal gesagt: "Kunst muss weh tun!" Und das war an diesem Abend auch der Fall. Wir denken, dass wir zu den Guten gehören: Wir spenden, recyclen, sind anständige Bürger, und dann müssen wir uns diese geballte Ladung Ungerechtigkeiten anhören, an denen wir ganz und gar nicht unschuldig sind. Als Beispiel möchte ich die schwarze Liste erwähnen, Produkte, die es zu boykotieren gilt. "Das wird mich bestimmt nicht betreffen, da ich mich schon jahrelang vegan ernähre, fast nur Bio- und kaum Fertigprodukte kaufe," denke ich. Und trotzdem fand ich u.a. ein Babyshampoo, das ich für einen Gast mit empfindlicher Kopfhaut gekauft hatte und die Margarine, die ich als Alternative zum Kochbutter zum Gemüse dämpfen verwende, auf der Zusammenstellung. Es gilt nun also ökologischere, giftfreiere, fairer hergestellte Ersatz-Produkte zu suchen. Das ist ein bisschen unbequem. Trotzdem bin ich dankbar, dass ich darauf aufmerksam gemacht wurde. Wer macht es denn sonst, wenn nicht solche Menschen, die das grosse Ganze im Blick haben, ihr Wissen unter das Volk bringen und nicht den Kopf in den Sand stecken wie so viele.
Gewünscht hätte ich mir höchstens, dass er - drei Tage vor der unseligen Durchsetzungsinitiative-Abstimmung - noch ein paar Sätze darüber von sich gegeben hätte. Doch ist das vermutlich bei der riesigen Zahl seiner Auftritte und dem unglaublichen Umfang seiner Ausführungen, zuviel verlangt.
Und ja noch etwas, einen Fehler, ein Haar in der Suppe, habe ich doch noch gefunden: Die Europäer haben zwar Pocken, Masern und Grippe zu den amerikanischen Ureinwohnern eingeschleppt - was verheerende Auswrkungen hatte - bei der Syphillis war es aber anders. Die Eroberer haben sie sich vermutlich bei den indigenen Völkern geholt. Auf welche Weise, will ich nicht näher erörtern. Kann man sich ja vorstellen.
Mir hat der Abend mit Hagen Rether ausgezeichnet gefallen. Es ist immer etwas Besonderes auf Menschen zu stossen, die auf der gleichen Wellenlänge sind. Wenn jemand wie Hagen Rether dies dazu noch dermassen genial und pointiert ausdrücken kann, ist es natürlich ganz besonders schön und befriedigend.
Das sind meine Gedanken zu diesem unglaublich gehalt- und wertvollen Abend.
Mit freundlichen Grüssen
Brigitta Ulusoy
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