von Andrin Uetz, 13.11.2019
Sauber geölter Traktor

Am Samstagabend spielte das Berner Traktorkestar im Presswerk Arbon auf. Es wurde ein Abend voller Balkanromantik auf einem sich immer schneller drehenden Karussell.
Für manche Leute ist der Balkan ein Sehnsuchtsort, ein Ort der Wärme und Herzlichkeit, besonders in den kühleren Jahreszeiten in unserem auf Hochglanz polierten Banken-, Pharma- und Präzisionsmaschinen-Land.
Weil aber diese Sehnsucht auch ein unsägliches Klischee bedient, und sich unser Autor damit in das Dilemma begibt, zwar kritische Distanz wahren zu wollen, aber gleichzeitig mit jedem Trommelschlag mehr und mehr in eine Balkaneuphorie zu verfallen, hat er sich folgendermassen auf das Konzert von Traktorkestar vorbereitet: Für jeden Balkansong einen zünftigen Schluck Šlivovica aus dem Flachmann nehmen, damit lässt sich der ganze Nationalismus- und Literaturnobelpreisdiskurs in Schach halten, so tun diese Trompetensalven ihre katharsische Wirkung und befreien von Gedanken an Krieg, Elend, Armut, Mafia, Korruption und Jugendarbeitslosigkeit. Also warum hier Trübsal blasen?
Video: Traktorkestar feat. Schmidi Schmidhauser – Oh Slivovica
Zum Aufwärmen etwas Jazz
Es war Samstag Abend in Arbon, das Stickerei Jazz Trio wärmte die bereits zahlreichen Gäste im Presswerk mit Real-Book-Klassikern wie “Summertime” aus George Gershwins Oper “Porgy and Bess” oder “Night and Day” von Cole Porter auf; erst mal einen weissen Spritzer und die Atmosphäre aufsaugen.
Mit Sandra Bötschi (Saxophon) und Peter Baumann (Gesang) hat das Trio aus St. Gallen Verstärkung für die grosse Bühne mitgebracht. Das Highlight blieben aber die versierten Improvisationen des Pianisten Christoph Seitler am E-Piano, der sich von der grossen Bühne nicht aus der Ruhe bringen liess. “Nochmal ein Glas Rotwein bitte!”, sagt jemand an der Bar, doch dann kommt alles anders.
Von null auf Unza Unza in drei Sekunden
Hier stehen sie also, zwölf Schweizer Burschen von Traktorkestar mit ihren Trommeln und Trompeten, und der Bandleader und Trompeter Balthasar Streit macht gleich klar, dass es ab sofort mit lauwarmem Apéro-Jazz vorbei ist. Energisch wirft er die Hände in die Luft, feuert sein Orchester an, und gleitet mit einem “Balkan-Moonwalk” rückwärts queer über die Bühne, sodass das Unza Unza von Helikontuba und Basstrommel den ganzen Saal elektrisieren, und von diesem Moment an niemand mehr still steht.
Der oben genannten Šljivovica-Regel folgend, gibt es für jeden Balkan-Song einen zünftigen Schluck von diesem serbischen Pflaumenschnaps, und da das Traktorkestar hauptsächlich Balkan-Songs spielt an diesem Abend, dreht sich das Presswerk bald wie ein riesiges Karussell angetrieben von ekstatischen Balkansynkopen.
Video: Traktorkestar feat. Stephan Eicher – Morgeflug
Traktor oder Audi?
Zum Glück gab es aber auch einige ruhigere Passagen, in denen das feine Handwerk der zwölf Jazzschulabsolventen zum tragen kommt. Eigentlich fast schade, dass es nicht noch etwas mehr von diesen Duke-Ellington-Momenten gab, bei denen man sich mit einem weissen Spritzer etwas den Pflaumenbrand nachspülen konnte. Manchmal schienen die Arrangements fast zu sauber, zu aufgeräumt für das Unza Unza des Balkanbrass, die Band eher in den jazzigen Harmonien und karibischen Rhythmen heimisch.
Dieser Traktor ist so gut geölt und gewartet, dass es sich schon fast eher nach PKW anfühlt. Aber das sind Details, und ob sie mit einem Traktor oder einem Audi übers Feld fahren; es macht beides Spass! (Und das Wortspiel mit dem Audiorchestar lassen wir jetzt auch lieber sein).
Den Balkan im Herzen
Wie schwierig es allerdings ist für Sänger und Sängerinnen, sich gegen eine Brassband zu behaupten, zeigte der Gastauftritt von Schmidi Schmidhauser. Seine geschauspielerten Alkohol- und Liebesschmerz-Hymnen wirkten etwas forciert. Da fehlte die deftige Charme von einem Endo Anaconda, oder eben einem Šaban Bajramović oder einer Esma Redžepova.
Wenn Schmidi im Song “Agatha” beklagt: “Agatha, warum hasch mi verrata?”, so will man das dieser Dame doch eher nachsehen, wenn nicht gar raten, doch von dem Typen lieber fern zu bleiben. Diese Mundartsongs, die meisten Teil der neusten Scheibe “Ostring”, sind ab Konserve aber sehr hörenswert.
Einiges könnte so auch über die Ostschweiz gesungen werden
Das Konzeptalbum ist inspiriert von der namensgebenden östlichen Vorstadt von Bern und deren Bewohnern und Bewohnerinnen. Es schlägt aber auch einen schönen Bogen zum Balkan, zum Südosten ganz allgemein, metaphorisch wie geographisch verstanden. Einiges was über das Quartier Ostring gesungen wird, könnte auch über die Ostschweiz oder eben den Balkan gesungen werden.
Wo der Balkan anfängt, wo der Balkan sich befindet, ist konzeptuell und geographisch ja auch gar nicht so klar. Für die einen ist es südlich von Wien, für die anderen die Region der Balkanhalbinsel, für andere das Balkangebirge in Bulgarien, und wiederum für viele ist irgendwo im Bauchgefühl, im Herzen. An diesem Samstag Abend war der Balkan jedenfalls im Presswerk Arbon, daran kann sich unser Autor trotz Šljibovica noch deutlich erinnern.

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