von Inka Grabowsky, 17.03.2022
So fern und doch so nah

Evolution oder Schöpfung? In einem Tischgespräch zwischen dem Direktor des Naturmuseums Thurgau und dem Prior der Benediktiner im Kloster Fischingen fanden beide erstaunlich viele Übereinstimmungen. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
Wer am Abend im Café des Naturmuseums einen heftigen Schlagabtausch erwartet hatte, wurde enttäuscht. Die Positionen der beiden Disputanten waren gar nicht so weit voneinander entfernt. „Bei Führungen gehe ich durchaus mal von der biblischen Schöpfungsgeschichte aus“, so der Museumsdirektor Hannes Geisser, „es gibt durchaus Überschneidungen.“ Umgekehrt betont Pater Gregor Brazerol, dass die Kirche nicht wissenschaftsfeindlich sei. „Da es gibt noch viele Vorurteile.“
Er habe selbst als Lehrer und Internatsleiter im Internat Kloster Disentis erlebt, wie eine junge Schülerin entrüstet war, als der Biologielehrer – Pater wie er selbst - die Evolutionstheorie durchgenommen habe. „‚Das darf der doch gar nicht‘, hat sie gesagt. Aber natürlich muss man alle Positionen kennen, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen.“
„Ich bin Kind Gottes und Teil einen langen Evolutionsgeschichte. Das widerspricht sich gar nicht.“
Pater Gregor Brazerol
Er selbst habe sich als Schüler allerdings lieber mit Gregor Mendel als mit Charles Darwin beschäftigt. Der Begründer der Vererbungslehrer war Abt der Augustiner, wie Darwin gleichzeitig ein Theologe und Naturwissenschaftler. „Ich bin Kind Gottes und Teil einen langen Evolutionsgeschichte. Das widerspricht sich gar nicht.“
Allerdings vermisst der Geistliche in Darwins Ideen zur Entwicklung der Arten einen tieferen Sinn: „Was die christliche Schöpfungsgeschichte von der Evolutionstheorie vor allem unterscheidet, ist die Ausrichtung auf ein gutes Ende, auf eine Neuschöpfung, in der alle ohne Leid in Frieden zusammenleben.“
Die Evolution sei tatsächlich durch den Zufall getrieben, räumt Hannes Geissler ein. „Sie braucht sehr lange Zeit und zufällige Mutationen.“
Gegen Fundamentalisten auf beiden Seiten
Hannes Geisser verwahrt sich gegen das Kirchenbashing, dass von Sektierern auf Seiten der Wissenschaft gelegentlich betrieben werde. Der promovierte Biologe hat im Nebenfach Paläoanthropologie studiert. „Das ist wirklich Hardcore Evolutionstheorie“ sagt er und warnt vor extremem Darwinismus. Der könne zu Auswüchsen wie Rassismus oder Euthanasie führen.
Keine Gruppe Menschen dürfe sich gegenüber anderen als höherwertig verstehen. Im Nationalsozialismus habe die normalerweise zufallsgetriebene Evolution in der Zucht von Menschen mit bestimmten Merkmalen ein Ziel bekommen und sei damit gefährlich geworden.
„Evolutionstheorie und Bibel wären ein tolles Tandem zur Erklärung der Komplexität der Welt.“
Hannes Geisser, Direktor Naturmuseum Thurgau
Pater Brazerol distanziert sich seinerseits ausdrücklich von den Kreationisten, die davon ausgehen, dass die Welt buchstäblich so entstanden ist, wie es im Alten Testament steht, und das erst vor einigen tausend Jahren. „Die Bibel ist ein vielschichtiger antiker Text. Man darf sie nicht aus der Perspektive eines Naturwissenschaftlers im 21. Jahrhundert als Faktenbericht lesen, sondern muss überlegen, was die Autoren vor vielen hundert Jahren mit den Geschichten haben aussagen wollen.“
Einige Menschen hätten jedoch ein grösseres Sicherheitsbedürfnis. Sie suchten Gewissheit in der Bibel, ohne anzuerkennen, dass es einen mehrfachen Schriftsinn gäbe. „Die Bibel beinhaltet auch viele kontradiktorische Erfahrungen mit Gott. Das ist irritierend und anstrengend. Menschen mit biblizistischem, engem Bibelverständnis suchen schwarz oder weiss, aber man muss lernen mit offenen Fragen umzugehen.“
Sowohl-als-auch statt Entweder-oder
Der Benediktiner fordert Kompromissbereitschaft auf allen Seiten: „Wissenschaft hat ihre Grenzen, ebenso wie die Theologie. Niemand formuliert in jedem Bereich letzte Wahrheiten.“ Geisser stimmt zu und zeigt gleich die Grenze der Evolutionstheorie auf: Sie erkläre, wie der Mensch entstanden sei, nicht aber, was den Menschen ausmache.
„Und sie wertet nicht. Naturwissenschaftler sehen in Räuber-Beute-Systemen kein Gut und Böse, auch wenn es dabei mitleiderregende Szenen gibt.“ Naturwissenschaft und Religion suchten eigentlich Antworten auf die gleichen Fragen, allerdings mitunterschiedlichen Methoden. „Die Frage ist nur: Muss man sich entscheiden?“
Der Pater ist überzeugt, dass das nicht notwendig ist: „Antworten gibt es auf unterschiedlichen Ebenen. Deshalb ist es keine Entweder-oder-Frage.“ Ähnlich konziliant ist das Fazit des Naturwissenschaftlers: „Evolutionstheorie und Bibel wären ein tolles Tandem zur Erklärung der Komplexität der Welt.“
„Wissenschaft hat ihre Grenzen, ebenso wie die Theologie. Niemand formuliert in jedem Bereich letzte Wahrheiten.“
Pater Gregor Brazerol

Von Inka Grabowsky
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