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von Jeremias Heppeler, 08.04.2020

Süsser Schauder

Süsser Schauder
Na, gruselig? Der Mensch hat ein seltsames Faible für das Verbrechen. Das hat auch was mit unserer kulturellen Prägung zu tun. | © Foto von Tookapic

Menschen sind seit jeher gleichermassen fasziniert und abgestossen von Gewalt und Verbrechen. Warum interessieren wir uns so für unsere Abgründe? Eine Spurensuche.

Trigger-Warnung: Der nachfolgende Text beschreibt ausserordentliche Gewaltverbrechen teilweise bildlich. Ziel des Textes ist weder zur Lösung des Falles beizutragen, noch die Opfer für eine nach Aufmerksamkeit haschende Berichterstattung zu missbrauchen. Viel eher soll das Phänomen True Crime analysiert werden.

25 Jahre später wird Ermittler Werner Schoop den Ort, den er gerade betrat, in einem Interview mit www.blick.ch als regelrecht friedlich beschreiben. Das Arboner Ferienhaus am See, ein Strandbad nur wenige hundert Meter entfernt, der Tisch auf der Terrasse gedeckt für mehrere Personen, so als hätten Mutter und Tochter noch Besuch erwartet. Doch diese Idylle ist längst Wunde geworden. Ein tiefer Riss, der bis heute offen steht.

Es ist nie so ganz eindeutig: Jeremias Heppeler geht auf Spurensuche nach unserem Faible für Verbrechen. Bild: Jeremias Heppeler

 

Der Doppelmord von Arbon taucht immer wieder auf

Wenige Stunden bevor Schoop und sein Team den Tatort absichern, Spuren suchen, Details sammeln, jede Kleinigkeit fotografieren, betritt die Grossmutter das Ferienhaus. Sie hat Frühstück mitgebracht. Doch ihre Tochter und ihre Enkelin sind tot. Gefesselt und - so muss man wohl sagen - mit einem Kopfschuss hingerichtet. An den Türen und Fenstern des Hauses gibt es keinerlei Einbruchsspuren. Auf einem Notizzettel hat der Täter den EC-Kartenpin der Mutter notiert, mit ihrem Honda Civic ist er später zu zwei Bankomaten gefahren und hat insgesamt 3000 Franken abgehoben. Viel mehr ist über ihn, den Unbekannten, der mehrere Fingerabdrücke am Tatort hinterliess, nicht bekannt.

Heute ist der Fall ein Cold Case und Chefermittler Schoop längst im Ruhestand. Die Opferfamilie, gekränkt von der Berichterstattung über das Verbrechen, das sie immer wieder in vermeintlich falsches Licht rückte, hat das alles verdrängt, ganz weit weg geschoben.

Und doch taucht er immer wieder auf, der Doppelmord von Arbon, einerseits als eine Art Schauergeschichte, andererseits, weil es eben doch noch einen Funken Hoffnung gibt, den Täter irgendwann und irgendwie und wahrscheinlich durch einen glücklichen Zufall zu finden. Zudem drängt die Zeit: Mord verjährt in der Schweiz nach 30 Jahren - nur wenig Zeit bleibt, bis sich der Mörder zumindest juristisch von aller Schuld befreit fühlen könnte.

Beispiel für den True-Crime-Hype: «Morddeutschland» vom NDR

Die Rolle des Verbrechens in unserer Kulturgesellschaft

In der sonst so friedlichen Ostschweiz sticht dieses Verbrechen besonders hervor. Das liegt vor allem an der Tatsache, dass der Mörder nie ermittelt werden und damit (wie wir so blumig sagen) mutmasslich noch immer unter uns weilt. Dazu kommt das so kühle, ja fast mechanische Vorgehen des Täters, der ihn in unseren Augen zur eiskalten, ungreifbaren Profi macht. Zum skrupellosen Monstrum. Verbrechen spielen in unserer Kulturgesellschaft eine grössere Rolle, als wir es uns eingestehen.

Wir sind zugleich fasziniert und abgestossen von allen Formen von realen Gräueltaten, die sowohl als reine, ja ungefilterte Unterhaltung dienen, aber eben auch als Warnung: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Sei dir nicht zu sicher. Schliess die Türe. Rede nicht mit Fremden.

Die wundersame Doppelung aus Entertainment und Angstmechanismus

Diese Doppelung aus Entertainment und Angstmechanismus, dieses angedeutete Spiel mit dem Feuer, zieht uns an wie das Licht die Fliegen. Und das nicht erst seit gestern. Bereits Bänkelsänger besangen mit Vorliebe Mörder und Verbrecher, Schiller machte die Räuberfiguren zu Antihelden, deren Blutlinie bis hin zu Fernsehserien wie Breaking Bad, Dexter oder Sopranos reicht.

Fritz Lang pflanzte mit „M - Eine Stadt sucht ihren Mörder" einen ersten Meilenstein in die Filmgeschichte, der das realistische Kriminalkino bis heute beeinflusst. In Deutschland ist die allsonntägliche, rituelle Mörderhatz in Form des „Tatort" fast schon zum sauerkrautigen Klischee gereift, genau wie „Aktenzeichen XY", dem (wenn man so will) ersten True Crime-Format überhaupt.

Das Genre „True Crime“ spiegelt unsere Affinität für das Böse

Meist sind es die ungeklärten Fälle, die uns besonders beschäftigen, die Teil des Kollektivgedächtnis werden und immer und immer wieder zum Sample-Material für Popkultur werden. Wir denken an Jack The Ripper in London, wir denken an den Zodiac-Killer in San Francisco, wir denken an die Hinterkaifeck-Morde in Bayern und die in Portugal verschwundene Madeleine McCann.

Aus der zutiefst menschlichen Affinität für „das Böse” (wenn man so will sind die realen Täterfiguren eben auch reale Antagonisten - und wir wissen alle, wie wichtig ebendiese für gelungene Narrationen sind) bei gleichzeitigen Mitgefühl für die Opfer entwickelte sich im vergangenen Jahrzehnt ein Genre, das speziell die Internetlandschaft nachhaltig prägte: True Crime.

Der ganz grosse Hype beginnt mit der Veröffentlichung des „Serial"-Podcast Ende 2014. In dem Format versucht die Radiojournalistin Sarah Koenig den Mord an der Schülerin Hae Min Lee aufzuklären, für den ihr Mitschüler Adnan Seyed verurteilt wurde. "Serial" brach, nein, pulverisierte alle Rekorde und verhalf sowohl dem Medium Podcast, als auch dem Genre „True Crime" zum finalen Durchbruch - und gehört damit zu den wichtigsten journalistischen und popkulturellen Werken der 2010er Jahren.

Viele Podcast-Formate beschäftigen sich mit dem Phänomen

In der Folge fluteten immer neue Formate den blutgesprenkelten Markt. „O. J. Simpson: Made In American" gewann den Oscar als bester Dokumentarfilm, die Serie „Making A Murderer" wurde zum Serien Phänomen, der Podcast "Sword&Scale" reifte zu einem der erfolgreichsten Crowdfounding-Projekte weltweit.

Auch im deutschsprachigen Raum setzte der Hype gewohnt versetzt, aber nachhaltig ein. „Die Zeit“ und der „Stern“ veröffentlichen eigene Verbrechen-Magazine mit dazugehörigen Podcast-Formaten, der Kriminalbiologe Mark Benecke und seine Ex-Frau, die Kriminalpsychologin Lydia Benecke sind regelrechte Stars der Szene, deren Interviews nicht selten Millionen von Klicks generieren und die gut recherchierte Dok-Serie „Morddeutschland" des NDR generiert mit Abstand die grösste Reichweite in der Mediathek des Senders.

Während die genannten Beispiele von Profis umgesetzt werden, gibt es aber auch eine Vielzahl von Trittbrettfahrern, die nicht selten erfolgreich als blosse Nacherzähler in Erscheinung treten und sich dabei gewollt oder ungewollt als schaurige Märchenerzähler inszenieren. Eine ungesunde Verschiebung, die nicht immer folgenlos bleibt.

Martin N. – der fleischgewordene Albtraum

Das wohl prägnanteste Beispiel dafür, wie die mediale Repräsentation unsere Wahrnehmung verschiebt und verändert, manifestiert sich in der unglaublichen Geschichte der Festnahme des Serienmörders Martin N. Er war ab Anfang der 90er Jahre über Jahrzehnte zum wohl meist gesuchten Gewaltverbrecher Deutschlands geworden. Zu einem Phantom. Einem fleischgewordener Albtraum.

N. stieg maskiert in Schullandheime ein und vergewaltigte dort dutzende Opfer, nachweislich drei Jungs wurden von ihm entführt und ermordet. Die Boulevardpresse gab dem Kindermörder alsbald einen schaurigen Künstlernamen: Der Maskenmann. Wohl aus Verzweiflung hatte die Polizei ein Fahndungsbild veröffentlicht, das eine hünenhafte Gestalt in Bomberjacke und mit Sturmmaske zeigte. Eine waschechte Horrorfigur, eine katastrophale Entscheidung.

Das Problem der Entmenschlichung des Täters

Fortan zeigte die Presse immer dann, wenn sie über die schockierenden Taten berichtete, das maskierte Phantom. Der nicht zu fassende Mörder wurde medial zusehends entmenschlicht, eine fast schon traditionelle Strategie, um die, durch die unbegreiflichen Taten ins Wanken geratene Ordnung aufrecht zu erhalten.

Bereits in den 20er Jahren und damit parallel zu den sich zu dieser Zeit stetig wachsenden Massenmedien, wurden die Serienmörder Peter Kürten (der Vampir von Hannover) und Fritz Haarmann (der Werwolf von Hannover) der menschlichen Sphäre entrückt und dem tierischen beziehungsweise fantastischen Diskurs zugeordnet.

Bei der Suche nach dem schwarzen Mann war die Polizei allerdings auf Hinweise aus der Bevölkerung angewiesen - die schiere Anzahl der Taten liess vermuten, dass der Täter irgendwann auch ohne Maske auffällig geworden war. Doch zu einer derart entrückten Figur konnte es keine wirklichen Hinweise geben - der real existierende Täter war durch zahlreiche Schichten übermalt und schlussendlich beinahe fiktiv geworden. Also entschlossen sich die Ermittler zu einem einzigartigen Schritt: Der Maskenmann musste wieder vermenschlicht werden.

Vom Täter zurück zum Menschen

Dabei half die zunächst wenig glaubwürdige Aussage eines Berufssoldaten, der sich 10 Jahre nach einem Mord daran erinnerte, das Opfer frühmorgens mit einen grossgewachsenen Brillenträger in einem Auto auf einem Waldweg gesehen zu haben.

Die Polizisten waren skeptisch, veröffentlichten aber dennoch eine sogenannte Situationsskizze mit dem Hinweis, dass der darin abgebildete Täter eventuell komplett anders aussehen könnte. Tatsächlich spielte das Aussehen bei diesem Vorgehen  nur eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger war, dass der schwarze Mann sich nun wieder zum Menschen transformierte. Ein Mensch, der Auto fährt. Ein Mensch, der eine Brille trägt. Ein Mensch, der Kinder entführt.

Das Medienecho war riesig und der mediale Köder erfüllte tatsächlich seinem seinen Zweck. Bei einem weiteren Missbrauchsopfer lüftete sich urplötzlich ein Schleier der Verdrängung und der Zeuge erinnerte sich nach Jahren des Traumas aus dem Nichts an einen Betreuer, der ihn bis ins letzte Detail zur Wohnung seiner Eltern ausgefragt hatte. Martin N..

Dokus als spezieller Nervenkitzel: «Making a murderer» auf Netflix

Fiktionale Geschichten vs. reale Ereignisse

Hier wird ein Umstand deutlich, denn wir nur allzu oft vergessen. Es gibt einen Unterschied zwischen fiktionalen Geschichten und realen Ereignissen. Die Fiktion hat zunächst keinerlei Folgen, sie steht für sich, in einem abgeschlossenen Unterhaltungsraum. Dort ist alles möglich und muss alles möglich bleiben.

Im Realraum aber gibt es eben auch reale Verzweigungen. Da gibt es reale Reaktionen auf reale Aktionen. Reales Leid. Reale Täter. Reale Opfer, die viel zu oft zum schnöden Beiwerk verkommen, wie die Statisten, die im „Tatort” eine Rolle spielen. Zu Zahlen. Zu Statistik.

Was Medien in der Berichterstattung lernen müssen

Das Verbrechen wird immer Teil unserer Gesellschaft bleiben. Dafür gibt es belegbare und analysierbare Gründe  Der Mensch (und vor allem die Männer) ist gierig, eifersüchtig, von Trieben bestimmt, ängstlich und paranoid. Und auch die eingangs beschriebene Faszination wird bleiben. Sie wird weiter wachsen.

Speziell in Verwurzelungen des digitalen Diskurs kommt den Medien hierbei eine entscheidende Rolle zu. Sie müssen zwar nicht unbedingt als moralische Instanz agieren, wohl aber moralisch und vor allem professionell handeln. Wir müssen auch den Verbrecher als natürliche Verästelung des Menschlichen wahrnehmen, nur dann können wir Gründe finden und verstehen. Eine Entmenschlichung bei einhergehender Fiktionalisierung hilft uns nie.

Auch nicht im Fall des Doppelmordes von Arbon. Bei der Recherche des Falles stellt man fest, wie einem die Berichterstattung (und sicherlich auch die Einleitung dieses Textes) regelrechte Bilder in den Kopf zeichnet. Zuerst das Bild des eiskalten Killers, der keine Spuren hinterlässt. Dann die Zeichnung eines bemitleidenswürdigen Würstchens, der nach seinem Sündenfall fast panisch von Bankautomat zu Bankautomat hetzte, um am Ende 3000 Franken abzuheben. Und ja, wir dürfen spekulieren. Theorien wälzen. Wir dürfen und müssen uns erinnern. Aber die Dunkelheit, die Schwärze bleibt. Das ist die Realität.

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