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von Jeremias Heppeler, 26.02.2021

Trautes Heim, Glück allein?

Trautes Heim, Glück allein?
Das Glück in den eigenen vier Wänden: Was ist dran am Mythos des Zuhauses? Unser Autor Jeremias Heppeler geht dem Thema nach. | © Canva

Rückzugsort, Wohlfühlort, Gefängnis? In den vergangenen 12 Pandemie-Monaten hat sich unser Gefühl gegenüber unserem Zuhause verschoben. Die Kunst hat seit jeher einen speziellen Zugang zum Thema. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)

Unsere Sprache bildet manchmal Begriffe aus, die wir Tag für Tag wie selbstverständlich benutzen, deren verschlungene Bedeutungsebenen aber oftmals gar nicht bewusst sind. Als ich mich vor wenigen Minuten erstmals an meinen Rechner setzte, um diesen Text über das Wohnen zu beginnen, da stolperte ich direkt über ein solches Wortgeflecht: Die eigenen vier Wände. Wie das klingt. Was da alles mitschwingt.

Nicht selten erscheinen uns unsere Häuser, Wohnungen und Zimmer als aus Stein geschlagene Erweiterungen des Körpers, gemeisselt aus unserem eigenen Schweiss und Blut.

Ein persönlicher Rückzugsort, egal wie kompakt er auch sein mag, gilt zumindest in weiten Teilen der westlichen Welt beinahe schon als Grundrecht. Auch wenn ebendieses Recht viel zu oft mit Füssen getreten wird und bezahlbarer Wohnraum für einen Grossteil der Menschen ein Wunschtraum bleibt.

Es gibt kulturell unterschiedliche Konzepte vom Wohnen

Das ist nicht überall so: In der Mongolei etwa denken die Menschen „wohnen“ anders, sie haben eine andere Vorstellung von Raum. In den kargen, lebensfeindlichen Landschaften des Landes sind die Menschen zusammen gerückt, bilden eine Art Phalanx aus Fleisch im inneren ihrer Jurten, in denen teilweise mehrere Generationen auf engstem Raum zusammen wohnen. Dieses Konzept haben die Mongolen dann auch in die Stadt Ulan Bator übertragen, wo sie Wohnungen teilweise wie Jurten beleben. 

Für uns ist das beinahe undenkbar. In unseren Köpfen haben sich andere Konzepte eingerichtet: Jeder Mensch braucht seinen eigenen, für sich abgesteckten Ort. Ein direktes und konkretes zu Hause. Eine Höhle. Einen Bau. Ein Nest. Nur für sich. Allein.

Artwork zum Thema Wohnen. Bild: Jeremias Heppeler

In der Pandemie sind Räume zusammengeschrumpft

Nun leben wir derzeit in ungewöhnlichen Zeiten, die uns viele Aspekte unseres täglichen Lebens ganz neu denken lassen. Gerade die Definitionen Raum und Räumlichkeit haben uns im vergangenen, von Ausgangssperren und Reiseverboten begleiteten Jahr intensiv beschäftigt.

Wo wir früher (als privilegierte Mitteleuropäer) kaum mehr Grenzen kannten, wo uns alleine unser Reisepass als Generalschlüssel für die Welt funktionierte, da sind die Räume heute in sich zusammengeschrumpft, wie bei einem Ballon, aus dem man die Luft ablässt.

Renovieren, neu machen, basteln: Die Wiederentdeckung des Wohnraumes

Vor diesem Hintergrund ist aber ein ganz spezieller Kernraum wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Zu Hause! So nimmt es nicht Wunder, dass speziell Baumärkte während der Corona-Krise teilweise regelrecht überrannt wurden. Gezwungen zum daheim bleiben, entdeckten viele Menschen ihren eigenen Wohnraum neu. Mitsamt seiner Makel. Mitsamt dem ganzen Ballast, der sich da über Jahre und Jahrzehnte angehäuft hatte.

Also: Ausmisten! Neu denken! Die japanische Aufräumberaterin Marie Kondō etwa surfte auf eine merkwürdigen Netflix-Erfolgswelle - und im englischen wurde „to kondo” zu einem neuen Wort für „den Schrank aufräumen”.

Das Eigenheim war plötzlich nicht mehr nur Rückzugsort nach langen Arbeitstagen, sondern zentraler und oberster Lebensraum. Das ist für einen Grossteil der Menschen selbstverständlich nichts neues, jeder von uns verbringt im Normalfall einen Grossteil seiner Zeit daheim, aber neue Regeln und Parameter verschieben grundsätzlich auch die Blickwinkel.

Mit der Moderne geraten auch Privaträume ins KünstlerInnen-Interesse

So ist es auch keine Überraschung, dass sich auch die Kunst seit Urzeiten stetig mit den Diskursen „Wohnen” und „Zuhause” beschäftigte - mit der klaren Einschränkung, dass derartige Einbrüche ins Feld des Privaten und Normalen für bildende Künstler über viele Jahrhunderte ein Unding darstellten.

Dieser Umstand änderte sich mit den Einbrüchen der Moderne, die Kunst öffnete sich für den Alltag und es gibt genreübergreifend (und abseits der Architektur) so einige herausragende Arbeiten, die sich konsequent mit dem Erzählen von (Privat-)Räumen auseinandersetzen. Wir denken an Hundertwassers Häuserfronten, an Edward Hoppers Architektur der Einsamkeit, an Van Goghs Alltagspoesien.

In „Parasite“ ist das Haus der heimliche Hauptdarsteller

Noch spannender, weil mehrdimensionaler und interaktiver erscheint der Umgang mit Wohnorten in den medialen Feldern des Films, der Games und der Literatur.

Es gibt keinen perfekten Film. Darüber sind sich Kritiker und Publikum einig. Zu unterschiedlich sind die Erwartungen, zu subjektiv die Eindrücke. Nicht selten unterscheiden wir die Filmwelt in Mainstream und Indie, die breite Masse hier, die Connaisseure auf der anderen Seite (eine durchaus problematische Ansicht).

Von Zeit zu Zeit aber gibt es Filme, die diese beiden Welten vereinen, die beinahe alle kriegen. Und keinem Werk gelang das im vergangenen Jahrzehnt so gut wie „Parasite” von Bong Joon-ho, der sowohl die ultimative Mainstream-Auszeichnung (den Oscar für den besten Film des Jahres), wie auch einen Grossteil der Kritiker Herzen absorbierte.

Ein fast perfekter Film

Doch was macht „Parasite” zu einem handwerklich fast perfekten Film? Es ist die Art und Weise, wie Bong Joon-ho Häuser, Städte und (Innen-)Architektur erzählt.

Der heimliche Hauptdarsteller im koreanischen Meisterwerk ist das Haus, die Kulisse, in dem sich ein Grossteil der Handlung entspannt. Es ist der Wohnraum der stinkreichen Familie Park, in welchen sich die bitterarme Familie Kim nach und nach einnistet.

Jedes Fenster wird zur eigenen Leinwand

Dieses Haus glänzt durch sein konkretes Design, durch feinfühligen, ja klaren Style, ohne jemals steril zu wirken.  Regisseur Bong Joon-ho erzählt diesen Kleinstkosmos virtuos, jede Kamerafahrt folgt den Formen des Hauses, jede Einstellung lässt tief blicken, offenbart neue Räume, jedes Fenster wird zur eigenen Leinwand.

Und langsam, Schritt für Schritt, schleicht sich in diese Darstellung die zunächst zärtliche Metapher des Klassenunterschieds, die in einem Sturm gipfelt: Dann nämlich, wenn es draussen Katzen und Hunde regnet, und die Quartiere der Armen bereits volllaufen und absaufen, da setzt man sich im Hause Park an den Kamin, während der Regen durch die Fenster zu heimeligen Kulisse beiträgt.

Ein Haus gebaut für die Bedürfnisse der Kamera

Kaum zu fassen, dass dieses Haus in Wirklichkeit gar nicht existiert, sondern der Feder des Designers Le Ha Jun entstammt, der insgesamt vier verschiedene Sets anfertigte- Und hier liegt das Geheimnis: Entscheidend für die Architektur waren nie die Bedürfnisse der potentiellen Bewohner, sondern die Bedürfnisse der Kamera. Kino-Magie!

Doch springen wir über die Ozeane, aus den sterilstylischen Villen und dem Grossstadtdschungel Seouls in Richtung Orcas Island im Bundesstaat Washington. Hier spielt das Computerspiel „What Remains Of Edith Finch”. Der Spieler übernimmt die Rolle der titelgebenden Protagonistin, die nach sieben Jahren zum einsamen Sitz ihrer Familie zurückkehrt.

Wohnen als Status-Symbol: Zeig mir wie du wohnst und ich sag dir wer du bist! Bild: Canva

Auf den Spuren von Edith Finch

In der Folge kraxeln wir uns durch das einzigartige, in eine atemberaubende Landschaft gepflanzte Anwesen, erkunden Zimmer für Zimmer, legen Geheimgänge frei und schlüpfen in kleinen Episoden in die stetig tragisch verlaufenden Biografien von Ediths Familie. Und ebendiese Schicksale verknüpfen sich in kunterbunten Knoten mit dem digital gemauerten Haus, das sich als virtueller, mit Geschichte und Geschichten aufgeladener Raum entpuppt, der sich mit nichts vergleichen lässt.

Als Verweispunkt könnte vielleicht der „Fuchsbau” genannt werden, jenes abenteuerliche Zauberhaus aus den „Harry Potter”-Romanen, in denen die chaotische Familie Weasley von Harrys besten Freund Ron wohnt. Während der Protagonist und Waisenjunge Harry im sterilen und herzlosen Einfamilienhaus seiner Tante aufwuchs, wo der Rasen mit der Nagelschere gestutzt wird, entwickelt sich das Haus der Grossfamilie zum symbolischen Gegenentwurf.

Ein Heim voller Fehler, aber auch voller Zuneigung

Der „Fuchsbau” ist voller Fehler, abgeschafft und abgelebt, ein einziges drunter und drüber, voll mit magischen Wesen - aber eben auch voll mit Zuneigung.

Doch zurück nach Orcas Island: Über die Jahrzehnte hatte die Familie Finch ihre vier Wände stetig erweitert, in die Erde und in den Himmel, als Schlupfloch und Rückzugsort, als Haus-gewordener Stammbaum und als Gedenkstätte. „What Remains Of Edith Finch” ist über weite Teile ein Walk-Simulator, der Spieler muss also nicht viel mehr machen, als die Bewegungstasten in Richtung der vom Spiel vorgegebenen Wege zu drücken.

Das Haus wird zum dreidimensionalen Buch

Das könnte schnell langweilig werden, aber weil wir mit jedem Zimmer, mit jedem Gegenstand auch immer ein Stück Erzählung freilegen und sich das Haus der Familie Finch damit praktisch zum dreidimensionalen Buch verstofflicht, entwickelt sich eine besondere Sogwirkung des Spielens, das mediale Grenzen beinahe fürsorglich auflöst.

Und apropos dreidimensionale Bücher: Wir müssen über „House Of Leaves” reden. Und zugegeben: Um Wohnen geht es im Debütroman von Mark Z. Danielewski nur bedingt, aber es gibt wohl kaum ein Werk, dass ein Haus derartig aufschichtet und mit der eigentlichen Narration gleichschält.

Die grundlegende Geschichte ist schnell erzählt (um die tieferliegenden Bedeutungsebenen fassbar zu machen, müssten wohl alle Autoren dieser Plattform ein Jahr lang nichts anderes schreiben): Der Fotograf Will Navidson steckt in einer tiefen Beziehungskrise und um diese zu kitten zieht er mit seiner kleinen Familie in ein ruhiges Einfamilienhaus.

Viel Liebe fürs Eigenheim: Wie wird diese Sehnsucht in der Kunst aufgearbeitet? Bild: Canva

So kann es auch gehen: Vom Heilungsort zum Schreckensort

Diesen Neubeginn will er auf Celluloid bannen und beginnt zu filmen. Die vermeintliche Idylle löst sich ab dem Moment in ihre Einzelteile auf, als im Haus urplötzlich eine Kammer auftaucht, die da eigentlich gar nicht sein sollte. Und physikalisch gar nicht da sein kann. Navidson wird zum Forscher und die Kammer offenbart sich alsbald als Portal in ein Labyrinth.

Die Besonderheit des Textes: Die erste Ebene wird in der Folge durch weitere Erzählstimmen ergänzt (markiert durch verschiedene Schrifttypen), die Texte verzahnen und verschlingen sich zusehends. Das Haus, zuerst gedacht als Heilung versprechender Rückzugs- und Kurort, entpuppt sich als Spitze des Eisbergs, als Tarnung und Tor, für einen tief verwurzelten, unter den Teppich gekehrten Schrecken.

Und parallel dazu verlaufen Danielewskis poetologische Auffächerungen: Wir beginnen in einer geradlinigen Horrorerzählungen, die sich aber durch Intertextualität, durch Zitate und Verweise auf sich selbst und auf die Popkultur, derartig auflädt, bis der Text zum sich selbst verschlingenden Labyrinth wird.

Zeig mir wie du wohnst und ich sag dir wer du bist!

So unterschiedlich die drei verhandelten Werke auch sein mögen, sie alle haben eines gemeinsam: Der Diskurs „Wohnen” wird nur selten vordergründig erzählt, sondern entpuppt sich als hinterlegte Meta-Ebene, schiebt sich als fast zärtliche Metapher in die Zwischenräume der Erzählungen, reift dort aber zum entscheidenden und ambivalenten Erzählmotiv.

Das Erzählen von Wohnräumen ist also stetig verknüpft mit einer mal mehr, mal weniger offensiven Charakterisierung der erzählten Figuren, Orte und Geschichte. Oder aber: Zeig mir wie du wohnst und ich sag dir wer du bist!

 

 

 

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