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von Inka Grabowsky, 18.09.2023

Vom Roman zum Film: Aus «Die Verlorene» wird «Friedas Fall»

Vom Roman zum Film: Aus «Die Verlorene» wird «Friedas Fall»
Kalter Nebel statt heissem Dampf: Das macht das Arbeiten leichter. | © Inka Grabowsky

Derzeit wird ein Roman der Thurgauer Autorin Michèle Minelli verfilmt. Die Iselisberger Autorin hat dafür selbst das Drehbuch mitverfasst. Grundlage ist der reale Fall der Bischofszellerin Frieda Keller, die 1904 wegen Mordes an ihrem Kind verurteilt wird. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Viel Betrieb herrscht im Locorama in Romanshorn am Mittwochmittag. Für einmal sind es nicht Eisenbahnfreunde, die das Gelände bevölkern, sondern 45 Mitglieder einer Filmcrew. Schon am Vortag hatten die Ehrenamtlichen des Vereins alles vorbereitet. 

Die 111 Jahre alte Lokomotive Ec 3/5 von der Mittel-Thurgau-Bahn wurde mit der Rangierlok von ihrem angestammten Platz im Lokschuppen aufs Freigelände gezogen. «Es war leichter sie zu schieben, als sie wirklich anzuheizen, so dass sie selbst fährt», sagt Roland Parigger, der Leiter des Bahnbetriebs. «Je nach Grösse des Kessels muss man ein bis drei Tage vorher einheizen, um auf Temperatur zu kommen.» 

Auf die Hitze der Dampflok wollte die Crew gern verzichten. Die Arbeit ist so schon anstrengend genug. Deshalb wabert nun weisser Nebel aus der Nebelmaschine aus dem Schornstein, nicht schwarzer Rauch wie bei einem echten Kohlenfeuer. 

 

Das Sonnensegel deckt das natürliche Licht ab. Bild: Inka Grabowsky

Schön für die Romanshorner Eisenbahnfreunde

Ein Location-Scout hatte das Locorama für die Dreharbeiten entdeckt. Nach ihm kam eine Delegation der Zürcher Produktionsfirma Condor Films, um sich umzusehen. «Und jetzt ist unser Gleis zum Zürcher Hauptbahnhof des Jahres 1904 geworden», freut sich Parigger – und er freut sich auch über die Mieteinnahmen, die dem Verein zugutekommen. 

Mit zusätzlicher Werbung für die Eisenbahn-Erlebniswelt rechnet er nicht. «Aus den vierstündigen-Dreharbeiten hier werden nachher nur ein paar Sekunden im Film. Man muss dann schon genau hinschauen, um das Locorama wiederzuerkennen.» 

Geduld gefragt

Auf dem Set wartet ein Bahnarbeiter voller Kohlenstaub auf seinen Einsatz. Doch zunächst muss ein riesiges Sonnensegel aufgestellt werden. Es sorgt dafür, dass am Set immer die gleichen Lichtverhältnisse herrschen. Sonnenschein und echte Wolken würden zu unruhig und zu unberechenbar sein. Endlich heisst es: «Ruhe, wir proben.» 

Schnell wird noch die Russschicht am Kragen des Schauspielers aufgefrischt – offenkundig gab es dort noch einen sauberen Fleck. Inhaltlich ist die Szene nicht sehr komplex: Der Staatsanwalt aus Sankt Gallen sammelt in der Vorbereitung auf den Mordprozess Informationen über die Angeklagte Frieda. Ihr Freund Heiri, der bei der Bahn arbeitet, soll Auskunft geben. Er steigt aus dem Wagen und putzt sich die dreckverschmierten Hände ab. Das wäre alles. 

 

Und noch einmal wird die russverschmierte Hand nachgeschminkt. Bild: Inka Grabowsky

 

Dummerweise kann auch dabei viel schiefgehen. Mal stimmt die Geschwindigkeit nicht, mal spiegeln sich die Zuschauer am Set in den Scheinwerfern der Lokomotive. Am Ende wird die Maskenbildnerin sechsmal die schwarze Farbe auf den Händen des Darstellers nachgeschminkt haben, bis das erlösende «Danke» von der Regisseurin Maria Brendle am Bildschirm im Innern des Lokschuppens ertönt und der Set-Aufnahmeleiter Felix Hoff «Aus» ruft. 

Damit haben dann auch Silas Moser und Lennart Falck eine Pause. Die beiden sind Statisten und mimen die Kollegen des Bahnarbeiters im Hintergrund. Silas durfte sogar zwei Worte sagen und den «Staatsanwalt» auf Heiri hinweisen. Allein 90 Minuten hat es gedauert, bis die beiden ausstaffiert waren. Geduld ist im Filmgeschäft unabdinglich. «Aber es ist faszinierend hinter die Kulissen zu blicken», sagt Silas. «Insbesondere bei historischen Filmen mache ich gern mit», ergänzt Lennart. 

 

Die Komparsen Lennart Falck und Silas Moser geniessen den Dreh - auch wenn es lange dauert. Sie werden nach Stunden bezahlt. Bild: Inka Grabowsky

Aktuelles Thema in historischem Setting

«Friedas Fall» spielt zwar in historischem Setting, das Thema des Films ist aber immer noch aktuell: Eine Frau wird nach Vergewaltigung schwanger, dafür sozial geächtet und tötet schliesslich ihr Kind. Dafür wird sie wegen Mordes verurteilt. «Trotz des historischen Kontexts liefert der Film einen wichtigen Beitrag zu aktuellen Debatten über Scham, Moral, Ethik und Gleichstellung und hat auch über 100 Jahre später noch Anknüpfungspunkte an unsere Gegenwart», meint die Produzentin Susann Henggeler. 

«Sein eigenes Kind zu töten ist unverzeihlich und gehört unbedingt bestraft. Mich hat interessiert, wie es dazu kommen konnte und wie die damalige Gesellschaft und Justiz mit diesem Cause célèbre umgegangen ist. Die Feministin Hélène von Mülinen illustrierte mit ihm ihren Kampf für die Emanzipation. Der Fall hat den Anstoss gegeben, dass Mann und Frau im Strafgesetz gleichgestellt wurden. Und zum ersten Mal haben regionale und überregionale Zeitungen bis ins benachbarte Ausland von einem lokalen Prozess berichtet. Heute würde man von einem Medienhype sprechen.» 

 

Für die richtige Perspektive scheut die Filmcrew keinen Aufwand. Bild: Inka Grabowsky

Die weibliche Sicht

Zwölf Jahre beschäftigt sich die Autorin Michèle Minelli mit dem Schicksal der Frau aus Bischofszell, die 1942 mit 63 Jahren in der «Irrenanstalt» Münsterlingen verstarb. Vier Jahre dauerten allein die Recherche und literarische Umsetzung. Dann - 2018 - gewann sie den Treatment Wettbewerb des Kantons St. Gallen und konnte damit das Drehbuch umsetzen, das sie schliesslich «Condor Films» vorlegte. «Wenn ich Frieda als literarische Figur erfunden hätte, dann könnte ich irgendwann mit ihr abschliessen. Aber sie ist eine historische Figur, ein Mensch, der gelebt hat.» 

Das Leben von Frieda Keller sei von Männern geprägt und zerstört worden. «Ich finde es gut, dass es nun Frauen sind - von der Autorin über die Regisseurin, die Produzentin bis zur Schauspielerin, die ihr wieder eine Bühne geben.» Produzentin Susann Henggeler ist sich nicht sicher, ob das Zufall oder Schicksal ist: «Bei der Besetzung der Regie ist nicht das Geschlecht ausschlaggebend, sondern der Zugang zum Stoff und die damit verbundene Vision.» 

Mit der Oscar-nominierten Maria Brendle habe man eine Regisseurin verpflichten können, die mit viel Fingerspitzengefühl das Drehbuch realisiere. «In der Entwicklung hat sie massgeblich dazu beigetragen, dass wir im Film eine Allianz von weiblichen Nebenfiguren wiederfinden, die eigenständig, stark und clever sind.» 

 

Autorin Michèle Minelli ist von den Dreharbeiten fasziniert. Bild: Inka Grabowsky

Erlebnis für die Autorin

Bei den Dreharbeiten hat die Autorin und Ko-Drehbuchautorin Minelli nun keine Funktion mehr, es sei denn, eine Szene müsste umgeschrieben werden, weil sie technisch nicht so umzusetzen ist wie geplant. An zwei Tagen schaut sie trotzdem zu. «Das will ich nicht verpassen», sagt sie. 

Surreal sei ihr erster Besuch Anfang August bei den Dreharbeiten in Pfungen gewesen. «Die moderne Film-Technik im historischen Setting und die vielen Menschen, die sich für den Film einsetzen: Das war beeindruckend.» Ausserdem habe sie sich sehr gefreut, wie minutiös sich Julia Buchmann als Hauptdarstellerin auf ihre Rolle vorbereitet habe – inklusive der Recherche in historischen Archiven. 

Auch an weiteren Thurgauer Orten wird gedreht

«Julia verurteilt Frieda nicht, sondern versteht sie - bei all dem Schlimmen, was sie getan hat. Meine Figur im Roman ist ja bereits eine Interpretation der Wirklichkeit, nun interpretieren die Schauspielerin und die Regisseurin sie erneut. So kommt man Frieda langsam näher.» 

Bis September wird noch gedreht. Aus dem Thurgau bekommen neben Romanshorn auch Bischofszell und Fischingen ihre «Cameo»-Auftritte. «Der Weg ist noch lang bis zur Premiere», sagt Michèle Minelli. Im Herbst 2024 soll «Friedas Fall» in die Kinos kommen. Da der Film eine Koproduktion mit dem SRF ist, wird er nach der Verwertung im Kino auch im Fernsehen zu sehen sein. 

 

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