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von Anabel Roque Rodríguez, 21.06.2023

Wann ist ein Mensch ein Mensch?

Wann ist ein Mensch ein Mensch?
Mittendrin statt nur dabei - ein Fleischermesser in einer Arbeit von Davor Ljubičić in einer neuen Ausstellung im Steckborner Haus zur Glocke. |

Die neue Ausstellung im Steckborner «Haus zur Glocke» geht verschiedenen Spielarten der Performance-Kunst auf den Grund. Und zeigt dabei, dass Kunst und Leben zusammengehören. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Bei dem Besuch der Ausstellung „Performance als individuelles Ritual?“ (noch zu sehen bis 8. Juli) zeigt sich schnell, dass alle vier gezeigten Positionen einen etwas anderen Blickwinkel auf Performance-Kunst aufzeigen und so gleichzeitig einem abstrakten Konzept mehr Körper geben. Gemeinsam haben sie alle, dass sie vom Persönlichen ausgehen und sich in Beziehung zur Welt setzen. 

So wie Ale Bachlechner, die in ihren Arbeiten neoliberale Versprechen entlarvt, indem sie fragt, ob diese wirklich ein gutes Leben ausmachen. In dem Video zur Ausstellung zeigt sie wie das neoliberale Glücksversprechen zu einer normativen Kraft wird, das unser Leben unsichtbar prägt. 

Unweigerlich wird die Frage aufgeworfen, wie gut wir im Leben «performen» und was das eigentlich dann noch mit einem guten Leben zu tun hat, wenn wir alle uns nur noch wie in einem Hamsterrad fühlen. 

 

«Mich interessiert Performance und Drag, nicht unbedingt als Darstellung des anderen Geschlechts, sondern wie Identität Geschlechterfragen aufwirft.»

Ale Bachlechner, Künstlerin

«Klassischerweise denken die Leute an etwas anderes, wenn ich sage, dass ich Performance-Kunst mache. Ich habe eine grosse Liebe zum Theatralen und zu popkulturellen Formaten. Mich interessiert Performance und Drag, nicht unbedingt als Darstellung des anderen Geschlechts, sondern wie Identität Geschlechterfragen aufwirft. Wir haben bestimmte Dramaturgien so verinnerlicht, dass das eigene Leben enttäuschend oder misslungen erscheinen kann, wenn es nicht einer dramatischen Handlung folgt.» 

In Ale Bachlechners künstlerischen Praxis spielen zwei Tätigkeiten eine zentrale Rolle, mit der man sich laut ihr das Leben ruinieren könne: Crying and Lying, also weinen und lügen unter dem Übertitel Ruin Your Life lässt sie uns so an ihren Beobachtungen und Gedanken über ihre und unserere Beziehung zur Welt nachdenken. 

 

Ausstellungsansicht Ale Bachlechner im Haus zur Glocke. Bild: Anabel Roque Rodriguez

 

Ruinieren wir uns unsere Leben!

Ihre Art der Performance zeigt deutlich, dass wir alle in unserem Leben bestimmten Handlungsanweisungen gehorchen, sei es um beruflich erfolgreicher zu sein oder um privat dem Glücksnarrativ zu folgen. «Ich plädiere dafür sich das Leben zu ruinieren – ganz ohne Maske und ganz unironisch, weil mich life choices und milestones schlichtweg selbst auch betreffen. Ich beschäftige mich mit dem Ringen um Bedeutung, mit der täglichen Überforderung und zwischenmenschlichen Schwierigkeiten im Neoliberalismus.»

Als Schmerz noch als Kunsterfahrung galt

Erwähnt man den Begriff «Performance» denken viele an Körperkunst, die Schmerzen in den Vordergrund stellt. Man denkt an Kunst der 60er und 70er und vielleicht noch an eine der bekanntesten Performances jener Jahre «Shoot» von Chris Burden der sich 1971 von einem Freund aus vier Metern Entfernung von einem Kaliber 22 in den Oberarm schiessen liess. 

Auch Marina Abramović ging in ihren Performances lange an die Grenzen des Erträglichen und rückte ihre eigene psychische und physische Existenz in den Mittelpunkt. Selbsterfahrung gepaart mit bestimmten Sichten auf die Welt zu Identität und Geschlecht standen oft im Vordergrund. Das grosse Thema war zu zeigen, dass Kunst existentiell ist und die Kunstschaffenden zum Äussersten bereit waren.

 

Künstler:innen mit den Kurator:innen Judit Villiger & Andreas Schwarz. Bild: Anabel Roque Rodriguez

Performance – weit mehr als Körperkunst

Der Performance-Begriff ist aber noch viel mehr als die Anfänge in der Körperkunst. Kurz gesagt, ist eine Performance eine Handlung, die vollzogen wird und die Kunstschaffenden persönlich in Beziehung zur Welt setzt. Interessant ist es, wenn man als Gast bei einer dieser Handlungen live dabei sein kann, aber Performance-Kunst lebt auch in Formaten wie Film, Fotografie oder in Objekten. 

Oft werden diese Mittel nicht einmal für Dokumentationszwecke genutzt, sondern sind eigenständige künstlerische Mittel, um persönliche Sichtweisen zu zeigen. Mit den Kameraeinstellungen lassen sich Perspektiven verdeutlichen, Zeit anders darstellen oder Bewegungen anders darstellen.

Über Lesbarkeit und Teilhabe

Judit Villiger und dem Co-Kurator Andreas Schwarz geht es in ihrer Ausstellung um die Frage nach der Lesbarkeit von Performances. «Wie stark ist eine Performance noch lesbar für andere, wenn es eine persönliche Fragestellung ist» bringt es die Leiterin des Hauses auf den Punkt. «Wir wollten den Begriff der Performance daher nicht zu eng fassen und ein gewissen Ortsbezug war uns wichtig.» ergänzt Schwarz. So luden sie Ale Bachlechner zu einer Mini-Residency von 10 Tagen ein, in denen sie vor Ort arbeiten konnte.

Über Flaggen und ihren Versprechen

Für das Projekt -x-=+ haben die Künstler:innen Claudia Barth und Christof Nüssli sieben Fahnen an sieben Punkten auf einer selbst konstruierten Nord-Süd-Linie durch die Mitte der Schweiz aufgestellt. Die Symbole auf der Flagge (-x+) sind eine spielerische Dekonstruktion der Schweizer Flagge. 

Als Teil der Performance wurden die Baumwollflaggen den Elementen ausgesetzt und treten so eine Art Zersetzungsprozess an. Mal in Erde vergraben, in Wasser versunken, zerfetzt durch starke Winde oder durch Feuer zu Asche zerfallen. 

Die Flagge selbst wird zu einem Bedeutungsträger und führt die zeitbasierte Handlung durch. Es ist also nicht direkt eine Performance zum Zusehen, sondern wird erst ab dem Moment interessant, wenn die Flaggen gewisse Zeit an einem Ort waren und man schliesslich sieht, wie sie sich verändert haben.

 

Arbeiten von Claudia Barth und Christof Nüssli. Bild: Anabel Roque Rodriguez

Eine Dekonstruktion unserer eigenen Bedeutung?

Die Performance funktioniert, weil wir verstehen, dass Flaggen Bedeutung tragen, über Nationalstaatlichkeit und Deutungshoheit sprechen. Grenzen haben etwas höchst Artifizielles und existieren nur, weil man sich auf sie geeinigt hat. Nun bringen die beiden Künstler:innen diese Bedeutungen mit den natürlichen Elementen in Berührung und paaren das Ganze mit noch mehr Bedeutung. 

Die schwarze Flagge, eine Erinnerung an das anarchistische Symbol und der Erinnerung an Disruption und dem Hinterfragen von aufgestellten Regeln. Es gibt keine Person die direkt handelt bei dieser Perfomance, es geht stattdessen um eine Handlung der Bedeutungsverschiebung. Die Flagge ist aufgeladen mit Fragen nach Dazugehörigkeit und Ausgrenzung, politischem Ungehorsam und Themen über Verortung. Die Performance ist eine Dekonstruktion unserer eigenen Bedeutungen und Assoziationen zu Flaggen und Staaten.

Performance als Nähe

Bei Nona Krach, Mina Achermann und Noah Krummenachers Werk geht es stark darum, wie nah sich zwei Personen kommen können und wo man doch noch Individuum bleibt. Ihre künstlerische Praxis speist sich aus gemeinsam verbrachter Zeit in gemeinsamen Residencies, wo die beiden für eine gewisse Zeit zusammenleben, kochen und spazieren gehen. Das Alltägliche wird in die jeweilige Arbeit verwoben. 

«Es ist eine Balance zwischen Spielerischem und Disziplin. Meist fängt es mit dem Spiel an, aber es kommt dann so etwas wie Perfektion dazu. Wir haben Mühe mit dem Werkbegriff der Kunstgeschichte und sehen alle Arbeiten als zusammengehörend.» sagt Noah Krummenacher über das Werk beider.

 

Der Künstler Noah Krummenacher im Haus zur Glocke. Bild: Anabel Roque Rodriguez

Kann man bis zur Unkenntlichkeit verschmelzen?

So ist die Arbeit we're two, failing in trying to become one im Haus zur Glocke auch eher als Teil einer ganzen Gruppe zu sehen. In den Videos sieht man die beiden bei verschiedenen Aktivitäten in der Landschaft, mal durch das Bild gehend, mal fast akrobatisch Balance haltend. 

Oft durch ihre dunkle Kleidung und den Kamerawinkel nicht mehr zu unterscheiden, stellen sie die Frage, nach der Verschmelzung von Körpern, der Rolle des Einzelnen und welche Rolle Geschlecht darin spielt. Ihre Performance ist ein sich verletzbar zeigen und hat etwas zutiefst menschliches, denn wir alle wünschen uns Nähe und zugleich Person bleiben zu dürfen.

Performance als Alltägliches

Betritt man das Haus zur Glocke steht man inmitten der Arbeit von Davor Ljubičić. Seine schweren Kohlezeichnungen sind präsent, fordern Aufmerksamkeit; in einer der grossen Arbeiten steckt bedrohlich ein grosses Fleischermesser. Es ist eine Art von Performance-Situation, wie man ihn klassischer einordnen kann. Körper und Material verschmelzen zu einer Einheit. Es ist laut und lässt einem als Zuschauer keine Wahl, man ist unweigerlich mitten drin.

«Performance ist ein alltägliches Ritual, so wie andere Leute aufstehen, frühstücken, Kaffee trinken und kacken gehen - etwas ganz normales. Es gibt keine Trennung von Kunst uns Leben, sondern nur ein ständiges Entstehen und Verändern. Ich bin kein Vertreter von einer konkreten Definition von Kunst.» fasst Davor Ljubičić sein Schaffen zusammen. 

Immer wieder vergleicht er sein Schaffen mit einer «archäologischen Ausgrabung», «Das Werk ändert sich, aber der Kern bleibt.» Und vielleicht zeigt er genau in diesen Worten was Performance ist: während die Formate und Orte der Aufführung sich unterscheiden, geht es im Kern doch um die Frage nach dem Menschlichen und wie wir damit in Verbindung treten. 

 

Davor Ljubičić erklärt dem Publikum seine Arbeit im Haus zur Glocke. Bild: Anabel Roque Rodriguez

Das Fazit

Die Ausstellung im Haus zur Glocke schafft es die Brücke zwischen Kunst und Leben aufzubauen und Einblicke zu den vielen Facetten von Performance-Kunst aufzumachen. Neben der Ausstellung am Haus wird es auch ein Performance Festival im Phönix Theater geben, der weitere Einblicke erlaubt.

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