von Zsuzsanna Gahse, 15.09.2025
Zwischen den Versen ein Roman

Frisch und gradlinig sind Jochen Kelters 84 neue Gedichte im Band «Grönlandsommer». Eindrücklich sind sie und selbst dann oft heiter, wenn sie von Verlusten oder Gebrechen handeln. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
Neben dem Titel gebenden Grönlandsommer, ziehen mehr als vier Jahreszeiten durch Jochen Kelters neueste Gedichte. Frühherbst und Altweibersommer treten ebenfalls an, und obwohl mit den Jahreszeiten keineswegs Vivaldis Komposition gemeint ist, spielt Musik in diesem Band eine schön verspielte Rolle, unter anderem, weil zwischen den Verszeilen wiederholt Lieder auftauchen. «Wenn das Wasser im Rhein goldener Wein wär» heisst es einmal versonnen, dabei war zuvor von den Schatten der Vergangenheit und von Ariernachweisen die Rede.
Das neue Buch ist eine einleuchtende Komposition. In zwölf Kapiteln mit je sieben Gedichten gliedert Kelter seinen beeindruckenden Rundblick über die Gegenwart, unterschiedliche historische und persönliche Vergangenheiten, über Landschaften, Freundschaften und eigene Befindlichkeiten. Und trotz der klaren Gliederung kommunizieren die einzelnen Kapitel miteinander, so dass sie schliesslich eine reichhaltige Einheit ergeben. Eine vielseitige Einheit mit melancholischen, manchmal tristen, aber auch witzigen Schattierungen.

Manchmal bleibt das Lachen in der Kehle stecken
In «Unwirkliche Begegnungen» reimt Kelter:
«Ich sitze im Strandkorb auf Mallorca
vorbei an mir reitet Garcia Lorca
zu seinem Esel spricht er: Hüa!
Ich trinke anderswo ein Glas Sangria»
Lächeln kann man auch bei der letzten Strophe des Begegnungs-Gedichtes:
«Genosse Stalin kommt gegangen
die Sowjetvölker sehen es mit Bangen
Ärzte Politbüro allesamt Idioten
jetzt weile ich bereits unter den Toten»
Bei manchen Gedichten bleibt einem durch überraschende Wendungen das Lachen in der Kehle stecken, so auch im «Grönlandsommer», wo unmittelbar nach den Zeilen mit einem Wetterbericht
«das große kalte Loch vor Grönland
schickt uns den frühen Sommer»
der erbarmungslose Krieg in Gaza aufblitzt, der Gaza-Sommer.
Albtraumhafter Blick auf das Zeitgeschehen
Schon früher waren in Kelters Gedichten komprimierte Romane oder Novellen zu entdecken, im neuesten Werk ist das noch deutlicher und berührender. Die Ingredienzen von aktuellen Ereignissen, politischen Begebenheiten, von Landschaften und persönlichen Erinnerungen vermengen sich zu einer Essenz, die (gute) Romane vermitteln konnten. Nun entsteht in Kelters Gedichten auf neue Weise ein beeindruckendes Gesamtbild.
Der «Grönlandsommer» ist wie gesagt eine durchdachte Komposition, in der der Schrecken nicht ausgespart wird, sondern sogar in mehreren Tonlagen hörbar ist. Einerseits albtraumhaft andererseits als offener, kritischer Blick auf das aktuelle Zeitgeschehen, auf eine Gegenwart, in der das Glück der Menschen darin bestehe «dass alle von Herzen ja sagen».
Unmittelbare Sprache fern jeder Künstlichkeit
Lakonisch vermerkt Kelter zwischendurch: «auch die Kunst ist seit kurzem künstlich». Seine eigene Sprache hat aber mit Künstlichkeit nichts zu tun. Unmittelbar und ohne neumodische Wortpartikel beschreibt er gesellschaftliche Veränderungen, verlorene Freunde und Liebschaften, spricht von der Schwarmintelligenz, widmet den Albträumen ein eigenes Kapitel, und auf die eigene Vergangenheit schaut er mit offenen Augen zurück:
«Wer war ich mit sechs Jahren?
Wie dann mit zehn noch
immer verpuppt?
Ich weiß es nicht mehr».
Über den guten Begriff der Verpuppung könnte man lang noch reden, und den «Grönlandsommer» liest man am besten nicht nur einmal.
Das Buch und die Lesung
Jochen Kelter: Grönlandsommer. Gedichte
136 Seiten; 12 × 20.5 cm; erschienen im August 2025
Reihe: Caracol Lyrik, Band 18
ISBN: 978-3-907296-42-4
20 CHF
Die Lesung: Jochen Kelter stellt seinen neuen Lyrikband Grönlandsommer am Donnerstag, 18. September, 19:30 Uhr, im Literaturhaus Thurgau vor. Moderation: Gallus Frei-Tomic. Eintritt: CHF 15.- regulär

Von Zsuzsanna Gahse
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