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06.03.2016

Photographieren und Schreiben

Photographieren und Schreiben
Stanton Street New Yorik | © alle Bilder: Simone Kappeler

Die Frauenfelder Fotografin Simone Kappeler arbeitete mit einem Atelierstipendium des Kulturamts und der Kulturstiftung des Kantons Thurgau von Oktober bis Dezember 2015 in New York. Darüber berichtet sie wie folgt.

Simone Kappeler

Während der drei Monate meines Atelieraufenthalts an der Orchard Street in der Lower East Side von Manhattan habe ich intensiv in den Strassen New Yorks photographiert und über meine Erlebnisse und Begegnungen eine Art photographisches Tagebuch geführt. Nicht alles liess sich photographisch festhalten, so begann ich zu beschreiben. Das Schreiben wurde neu zu einer wichtigen Ergänzung und Bereicherung meiner photographischen Arbeit.

Ausgangspunkt: Lower East Side

Die Orchard Street in der Lower East Side war genau der richtige Ausgangspunkt für viele meiner Photos. Sie war und ist mitten in der Gentrification begriffen: alte einfache Läden und Handwerksbetriebe existierten noch. Aber allein in den drei Monaten meines Aufenthalts entstanden mindestens vier neue Kleiderläden. Ebenso sind in den letzten Jahren neue, doppelt so hohe Häuser in die bestehenden Strassenzeilen hineingebaut worden, und Restaurants, Bars und Galerien sind entstanden. Für die alteingesessenen Bewohner - Amerikaner und Chinesen - wird es zu teuer hier, und sie ziehen weg nach Brooklyn oder Queens.

Orchard Street

 

Nachts bietet die Orchard Street einen völlig anderen Eindruck als tagsüber: die Geschäfte sind hinter Rollläden mit bunt bemalten Bildern verborgen, und unscheinbare Hauseingänge führen in Clubs. Die jungen Leute steigen aus Taxis und geniessen hier das Nachtleben. Mit einer alten Polaroidkamera und High Speed Film habe ich diese Partyszene in den umliegenden Strassen bei vorhandenem Licht photographiert.

Orchard Street

 

Der erweiterte Blick

Von der Lower East Side ausgehend, führten mich meine Wege immer weiter in die anderen Quartiere New Yorks, ins nahegelegene Brooklyn, vor allem nach Dumbo, Red Hook, Williamsburg, Rockaway, nach Queens, aber auch nach Chelsea, in den Meatpacking District, hoch hinauf nach Harlem, um nur einige zu nennen. Dabei blieb die Lower East Side immer ein Schwerpunkt meiner Arbeit, vor allem auch, da ich hier auch mitten in der Nacht problemlos photographieren konnte. (Die Frage war eher, was ich mir zutraute.)

Rockaway Beach

Chelsea

 

Sieben verschiedene Kameras

Für die New York-Bilder habe ich sieben verschiedene Kameras verwendet, eine analoge Mamiya 6x7 Mittelformatkamera, um möglichst viele Details vor allem an den bemalten und beschriebenen Fassaden abbilden zu können, eine ebenfalls analoge automatische Kleinbildkamera, eine Diana und zwei kleine Digitalkameras, um flüchtige Szenen zu erwischen und für schwierige Lichtverhältnisse gerüstet zu sein, und zwei Polaroidkameras, wobei die bereits erwähnte Polaroid 180, eine Profikamera mit toller Optik aus den 1960er Jahren, oft für Aufsehen sorgte und ich dadurch mit vielen Leuten ins Gespräch kam.

Entstandenes Material

Insgesamt habe ich über 100 analoge Filme belichtet, farbige, schwarzweisse, Infrarot- und andere Spezialfilme, 80 Polaroidfilme, farbig und schwarzweiss, und digitale Bilder gemacht. Eine für mich bisher unerprobte Herausforderung ist die Verbindung der Bilder mit den beim Aufenthalt erstmals in diesem Ausmass entstandenen Texten.

Ausblick

Mein Ziel ist es, Bilder und Texte in eine spannende Form miteinander zu bringen. Dies auf eine Art, wo als Bilder gezeigt wird, was des optischen Reichtums wegen Bild sein muss und wo beschrieben wird, was Bilder an Informationen und Handlungen und psychologischem Hintergrund nicht leisten können.

Fazit

Neben dem Photographieren hatte ich viel Zeit in den Museen und Galerien New Yorks zugebracht, was eine unendliche Inspirationsquelle ist. Da die Ausstellungen in den Galerien häufig wechseln, wird man nie fertig, die Auswahl ist gigantisch. Auch zu Booksignings bei Strand bin ich oft gegangen und habe so berühmte Photographen live erleben können.

Das tolle an diesem Aufenthalt war, dass ich unbelastet von irgendwelchen Verpflichtungen arbeiten konnte, und dies in einer unheimlich anregenden Umgebung. Man brauchte nur auf die Strasse zu treten, und sofort war man aufgenommen von der unglaublichen Energie dieser Stadt.

Central Park

Essex Street

 

Es war gut, allein unterwegs zu sein, da man da viel fokussierter auf die Umgebung ist und keine Ablenkung hat. Für Künstler ist es vermutlich die anregendste Stadt überhaupt, da Menschen aller Herkunft hier miteinander leben. Es gibt zwar von allem viel, man braucht Zeit, um sich einzuleben. Trotzdem, die amerikanische Kultur ist nicht exotisch für uns, was den Zugang erleichtert. Es ist gerade die richtige Mischung aus anders und vertraut. Sonst wären drei Monate definitiv zu kurz, um etwas zu schaffen.

***

Die nächsten Ausstellungsbeteiligungen von Simone Kappeler sind:

- Frühlingserwachen, Museum Langmatt Baden, 20.3. - 22.5.2016; Gespräch mit der Künstlerin in der Ausstellung am Mittwoch, 27.4. 2016, 12.15 Uhr

- Fremde Heimat, eine photographische Spurensuche, Museum Kunst und Wissen, Diessenhofen, ab 24.4.2016; Gespräch mit der Künstlerin am Sonntag, 12.6.2016, 16 Uhr

- photo basel art fair 2016, mit Galerie widmertheodoridis, 14. -19.6.2016

 

Simone Kappeler

Simone Kappeler ist 1952 in Frauenfeld geboren und aufgewachsen. Studien der Kunstgeschichte an der Universität Zürich und eine Ausbildung an der Fachklasse für Fotografie an der Schule für Gestaltung in Zürich bilden die Grundlage für ihre fotografische Tätigkeit. Durch die Buchpublikationen "Omphalos", "Diana" und "Auf dem Rücken des Sees" aber auch durch Einzel- und Gruppenausstellungen in Zürich, Biel, Nürnberg oder New York ist Simone Kappeler nicht nur einem Fachpublikum bekannt geworden. (Kunstmuseum Thurgau/Archivbild)

 

- Mehr zum New Yorker Atelierstipendium lesen Sie hier.

- Mehr zum zweiten Stipendiaten des Jahres 2015, Niculin Janett,  finden Sie über unsere Volltextsuche nach „BLOG / Letter from NYC“ auf thurgaukultur.ch.

 

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