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von Inka Grabowsky, 30.09.2016

Auf den Spuren eines Ausbrechers

Auf den Spuren eines Ausbrechers
Markus Landert, Direktor des Kunstmuseums Thurgau, mit dem Portrait von Mathilde Ammann, der ersten Besitzerin des Fotoalbums von Saskia Egloff | © Inka Grabowsky

Um 1830 lebte im Thurgau ein geheimnisvoller Mann: Charles Sealsfield weilte in Tägerwilen – wahlweise als Schriftsteller, als Spion oder als Flüchtling. Ein Kongress erforscht derzeit Leben und Werk.

Inka Grabowsky

Schon vor neunzig Jahren war es speziell in der Grenzregion am Bodensee. Seit die Stieftochter von Napoleon, Hortense de Beauharnais, 1817 das Schloss Arenenberg als Exil gewählt hatte, seit die Exilantendruckerei Belle-Vue in Kreuzlingen Werke von deutschen Revolutionären veröffentlichte, wirkte die Welt nur nach aussen freundlich, idyllisch und verschlafen. In Wirklichkeit brodelte unter der wohlanständigen Oberfläche der Aufruhr. Das ist das Bild, das die Referenten der Internationalen Charles Sealsfield-Gesellschaft bei ihrer Tagung im Bodman-Literaturhaus in Gottlieben zeichneten. Charles Sealsfield soll einer der Spione gewesen sein, die Hortense' Sohn Louis-Napoléon Bonaparte umschwirrten.

Vermittler zwischen den Welten

Geboren wurde Sealsfield 1793 als Carl Postl in Österreich-Ungarn. Als junger Mann trat er in den Kreuzherrenorden ein und machte Karriere als Kirchenfunktionär. Doch mit dreissig floh er aus seinem geregelten Leben in die USA, nahm einen neuen Namen an, veröffentliche Sachbücher und Romane und kehrte als Schriftsteller nach Europa zurück. „Die vereinigten Staaten begannen damals zu einer soziale Alternative zu werden", sagt der Wiener Germanistik-Professor Wynfrid Kriegleder in seiner Tagungs-Einführung. „In jenen Jahren strömten Wirtschaftsflüchtlinge aus ganz Europa nach Übersee. Charles Sealsfield war einer der wenigen, die Informationen aus erster Hand wieder zurückbrachten."


Wynfrid Kriegleder vor dem autorisierten Portrait von Charles Sealfield. Bild: inka

 

Sealsfields Bücher über die neue Welt wurden schon damals mit Interesse aufgenommen - Bestseller waren es jedoch nicht unbedingt. Vielleicht deshalb bewarb sich Sealsfield nachweislich um einen Job als Agent bei Fürst Metternich und später beim US-Aussenministerium. Die entsprechenden Briefe sind erhalten. Nicht überliefert ist, was er tatsächlich im Umfeld von Louis-Napoléon suchte. „Er hat in den USA jedenfalls für eine Zeitung gearbeitet, die Joseph Bonaparte gehörte", so der Experte. „Möglicherweise liegt hier der Zusammenhang."

Die Schweizer mittendrin

Die Bonapartisten sind auf dem Arenenberg nicht isoliert. Ihnen zur Seite stehen alteingesessene Schweizer Familien, die Kontakte knüpfen. Die Ammanns und die Egloffs gehören dazu. „Sie sind quasi die Aristokraten in der dörflichen Gemeinschaft", sagt Markus Landert, der Direktor des Kunstmuseums Thurgau bei seinem Vortrag (siehe Bild ganz oben). Mathilde Ammann wird 1870 sogar zur echten Aristokratin, als sie Alexander Guislin Freiherr van Zùylen-van Nyevelt heiratet. Ihr Mann stirbt zwar kurze Zeit danach, doch sie bleibt ihr Leben lang ‚die Baronin'. „Sie war eine gebildete, selbstbewusste und unabhängige Frau, die Generationen von Künstlern an den Bodensee zog", schwärmt Landert.

Im Kunstmuseum Thurgau hängen diverse Bilder der begabten Malerin, die über Jahrzehnte Freunde, Verwandte und sich selbst portraitierte. „Genau deshalb bin ich auch fasziniert von dem Fotoalbum, das die Internationale Charles Sealsfield-Gesellschaft zum Anlass für die Tagung hier genommen hat", so der Kunst-Experte. „In dem Album, das zur Hochzeit von Mathilde zusammengestellt worden sein dürfte, gibt es Fotografien von Menschen, die ich bisher nur von Gemälden kannte. Es ist interessant, beides miteinander zu vergleichen."

Das Foto als Aufhänger

Anlässlich des Kongresses hängen im Flur des Bodman-Hauses vergrösserte Fotos. Eines zeigt eine autorisierte Aufnahme von Sealsfield als Greis, ein Zweites einen Mann in mittleren Jahren, ein Drittes montiert beide Bilder übereinander und lässt Übereinstimmungen erkennen.


Die vergrösserten Sealsfield Fotos. Bild: inka

 

Otto Egloff, Organisator der Tagung und Hobbyhistoriker aus Tägerwilen, ist überzeugt, dass er im Nachlass seiner Patentante Saskia Egloff ein Portrait von Charles Sealsfield in jüngeren Jahren entdeckt hat. Markus Landert zweifelt daran: „Ich bin nicht gerne Spielverderber, aber das fragliche Bild ist eindeutig eine sogenannte ‚Carte de Visite'. Die Technik, mit der Fotografien als Massenware unter das Volk gebracht werden konnten, wurde erst 1854 patentiert. Sealsfield war damals schon 61 und hatte sich nach Solothurn zurückgezogen. Es ist überaus unwahrscheinlich, dass er der Unbekannte ist."
„Es bleibt uns noch viel zu forschen", kommentiert einer der Tagungsteilnehmer. Unglücklich darüber, dass das Foto sie an den idyllischen Bodensee gelockt hat, ist jedenfalls niemand.

Otto Egloff mit seinem Vorfahren Johann Konrad Egloff, der Charles Sealsfield persönlich gekannt haben soll. Bild: inka

***

Frühere Beiträge zu Sealsfield auf thurgaukultur.ch:

Ein Foto sorgt für Wirbel

Spion, Rebell oder Schriftsteller

charles-sealsfield.at

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