12.08.2010
Huggenberger und Nazideutschland

Zurzeit wird der Nachlass Alfred Huggenbergers erforscht. Die Germanisitin Rea Brändle und der Historiker Mario König zeichneten in einem Gespräch mit dem «Tagblatt» im April das Bild eines geschäftstüchtigen, immerzu nach Anerkennung hungernden Mannes, der es geschafft hat, auch vom deutschen Bildungsbürgertum akzeptiert zu werden. Unter anderem war Huggenberger in Leipzig seit Erscheinen des ersten Romans 1912 immer wieder Gast in der vornehmen Villa seines deutschen Verlegers Alfred Staackmann, der 1941 starb. Das habe er sehr genossen, sagen die Forscher. Ab 1933 bekannte sich dieser Verlag zum Nationalsozialismus. Nach dem Krieg schickte Huggenberger der Witwe Staackmanns Essens-Pakete. Karl Kraus waren die «Staackmänner» aber schon früher suspekt. «Sie schreiben auf der Scholle und ackern auf dem Schreibtisch», stellte Kraus 1914 fest und liess auch Huggenberger nicht unerwähnt.
Die Forscher attestieren Huggenberger zwar Politikferne. Er sei nicht völkisch national gewesen, sondern habe die Bedrohung von Links gesehen, sagt Mario König. Trotzdem liess sich der Thurgauer 1937 und 1942 von deutscher Seite mit Preisen für seine Verdienste um den alemannischen Kulturraum ehren. 1942 schüttelte er Reichspropagandaminister Joseph Goebbels laut Mario König zum zweiten Mal die Hand. Auch sei er Mitglied der Europäischen Schriftstellervereinigung ESV gewesen, die zur Verbreitung der Nazikulturpolitik gegründet worden sei. Ebenfalls 1942 sei Huggenberger ins besetzte Elsass gereist, was er später bereut habe. Durch die Säuberungskommission des Schweizerischen Schriftstellervereins sind nach 1945 Hearings durchgeführt worden. Huggenberger wurde abgemahnt.
Ein ausdrückliches Bekenntnis zum Nationalsozialismus hatten Brändle und König bis im April nicht gefunden. Auch glaubten sie nicht, dass Huggenbergers Nachlass, wie bisweilen vermutet, wegen der Haltung gegenüber Nazideutschland systematisch gesichtet worden sei. Ob es bis heute neue Erkenntnisse gebe, sagen sie auf Anfrage nicht. «Wir wollen uns im Moment nicht auf die Äste hinauslassen mit wenig gesicherten Aussagen», so König. Da ständig neues Material hinzukomme, wolle man sich eine «abwägende Beurteilung zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht erlauben». Am 4. November würden sie aber in der Kantonsbibliothek über Huggenberger sprechen.
Zu «Alfred Huggenberger – gestern, heute und morgen» referiert an der Buchvernissage vom 27. August Paul Roth. Roth ist promovierter Philologe und Generalsekretär des kantonalen Departements für Erziehung und Kultur. Dem Phänomen Huggenberger sei nicht leicht gerecht zu werden, schreibt er in einer Stellungnahme. Er habe als Mensch in ganz verschiedenen Bereichen gewirkt: Bauer, Autodidakt, Politiker, Gelegenheitsdichter, Schriftsteller. «Aus der Verbindung dieser Felder hat sich ein sehr facettenreiches Leben ergeben», so Roth. «Je nach Blickwinkel und Zeit scheint die eine oder andere Facette stärker auf. 50 Jahre nach seinem Tod haben wir heute die nötige Distanz, um Huggenberger als Ganzes, das heisst mit all seinen Stärken und Schwächen, sine ira et studio gerecht zu werden.»
An dieser Aufgabe arbeite gegenwärtig das Autorenteam Rea Brändle und Mario König. Ihre Werkbiographie werde Alfred Huggenberger von ganz verschiedenen Seiten beleuchten und die zentralen Fragen, die sich mit seinem Leben und Werk verbänden, nach wissenschaftlichen Kriterien beantworten, verspricht Paul Roth. «Sich mit Huggenberger auseinandersetzen heisst nicht, ihn propagieren. Sich auf Huggenberger einlassen könnte bedeuten, einem Menschen mit Zwischentönen, Widersprüchlichkeiten und Anerkennungsbedürfnis im Wandel der Zeit und der Gesellschaft zu begegnen.» (ho)
Buchvernissage am 27. August ab 18 Uhr in der UBS Kreuzlingen, Hauptstr. 27. Während der Vernissage spielt Ralph Hirs Saxophon und Querflöte. Maja und Heinz Böckli rezitieren Huggenberger-Gedichte.
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