von Andrin Uetz, 26.01.2022
Antikunst und Instagram
Wie ein Treffen von Blink 182, Babymetal und Andreas Gabalier in einem Thurgauer Zivilschutzkeller: Zum neuen Album des Frauenfelder Musikers Daif aka David Nägeli. Sein zweites Album «alles was mir hend wölle isch alles (und alles was mir becho hend isch chalt)» ist beim Zürcher Label BlauBlau Records erschienen. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
Das Album-Cover, welches an Type O Negative denken lässt, ist etwas irreführend: Daif hat keine Doom-Metal Scheibe aufgenommen, auch wenn es ab und an kleinere Idol-Metal-Episoden gibt darin.
„alles was mir hend wölle isch alles (und alles was mir becho hend isch chalt)” klingt im ersten Moment eher so, als hätte man Blink 182, Babymetal und Andreas Gabalier für einen Monat in einem Thurgauer Zivilschutzbunker isoliert, und sie mit zellophanverpackten 1/2-Preis-Brötchen, Ankerbier und Amphetaminen abgespeist.
Also komplett ungeniessbar, aber irgendwie trotzdem gut.
Emo-Exzentrik im Zeichen der Aufmerksamkeitsökonomie
Das Rezept für Daifs musikalische Neuausrichtung ist an sich nicht neu. Auch Rapper wie Lil Peep oder Young Krillin lassen Elemente des Emocore, Skate-Punk oder des Death-Metal in ihre Tracks miteinfliessen.
Bei Daif aber ist vom Cloud-Rap heute nur noch der exzessive Autotune-Gebrauch sowie eine Affinität für den wirksamen Auftritt in den Social Media geblieben. Erstaunlicherweise macht Autotune als verzerrender und expressiver Effekt in Daifs Emo-Phase durchaus Sinn.
Teenage Angst, Anxiety
Auf textlicher Ebene verbindet Daif konsequent Elemente der teenage angst der Emo-Szene mit einer neueren menthal health awareness, in welcher Begriffe wie anxiety, borderline, co-dependency, gaslighting, usw. ihren Weg in den Wortschatz einer breiten Bevölkerungsmasse finden.
Der egomanische Gebrauch dieser Wörter in den Songtexten passt gut zu einer allgemeinen Befindlichkeit im Jahr 2022: Heute ist jede:r irgendwie Opfer, und Schuld daran sind die anderen. Daif dekonstruiert diese allgegenwärtige Selbstgefälligkeit, oder zumindest könnte man es so interpretieren.
Die dabei zelebrierte Larmoyanz – „I wöt neui Lieder zum trurig si” – zeugt durchaus auch von augenzwinkerndem Humor. Oder wie der Songwriter Lukas Burkhard jeden Morgen zu sagen pflegte: „Mir gohts uu schlecht…”
Hunger Games der Kulturförderung
Die stärksten Momente des Albums sind dort, wo auch eine Prise Wut mit in die Songs einfliesst. „ficked eu alli” bringt es auf den Punkt, wenn Daif über eine schnelle Punknummer rotzt: “Mini Fründinne hend jetzt cash – was han i?!”
Hier rafft sich das Lyrische-Ich auf aus dem pandemischen Winterschlaf und bringt eine Befindlichkeit aus dem Kulturprekariat – in dem man sich für einen Gemüseeintopf den Arsch aufreisst, während dem sich Altersgenoss:innen Häuser kaufen und die dritte Säule aufpumpen mit ihrem regelmässigen Einkommen – auf den Punkt.
Geringschätzung von kultureller Arbeit
„alles was mir hend wölle isch alles (und alles was mir becho hend isch chalt)” wird so zu einer Parabel für die Diskrepanz zwischen den hohen Idealen ambitionierter Popmusiker:innen und der gesellschaftlichen Geringschätzung ihrer Arbeit, welche sich nun in der Pandemie umso deutlicher zeigt.
Niemand hat auf dieses Album gewartet; und gerade deshalb haben wir es uns mehr als verdient.
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