von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 25.09.2020
Corona-Krise: Ist die Kunst zu brav?

Zuletzt war häufiger zu hören, die Kunst sei in der Corona-Krise zu brav gewesen. Wer so etwas behauptet, hat weder die Kunst noch die Dimension der Pandemie verstanden.
Schon klar: Wer für sich eine gesellschaftliche Führungsrolle beansprucht, der kann sie nicht ohne Weiteres und nach Belieben einfach so wieder aufgeben. Die Kunst versteht sich seit Jahrhunderten als gesellschaftliche Avantgarde und gefällt sich in der Rolle des kritischen Mahners.
Insofern konnte man fast darauf warten, bis die ersten kritischen Texte zur Rolle von Kunst und Kultur in der Corona-Krise erscheinen. Sie gerieten mal klüger, mal plumper. Allesamt behaupteten sie aber, die Kunst habe in der Pandemie versagt, weil sie zu brav und staatstreu gewesen sei. Sie habe es versäumt, kritische Positionen zur Corona-Politik zu entwickeln.
Aber stimmt das auch? Um es klar zu sagen: Nein. Solche Thesen sind ziemlicher Unsinn. Wer so etwas behauptet, hat weder die Kunst noch die Dimension der Pandemie verstanden. Aber eins nach dem anderen.
Künstler sollen weiter Hofnarren sein. Geht’s noch?
Es ist schon ziemlich perfide, von KünstlerInnen zu verlangen, dass sie schön weiter ihrer Rolle als Ober-Kritiker und Hofnarren der Gesellschaft spielen sollen, während ihnen gleichzeitig die Existenz unter den Füssen weggezogen wird. Keine Einnahmen, keine Engagements, keine Bühnen. Von einem auf den anderen Tag sind ganze Geschäftsmodelle eingestürzt. Niemandem sollte man übel nehmen, dass er im Ringen ums eigene Überleben, keine gesellschaftlichen Visionen entwickelt. Die Forderung, unter diesen Umständen weiterhin normal zu funktionieren, erinnert ein bisschen an das Orchester auf der Titanic, das angeblich bis zum Untergang gespielt haben soll.
Diese Forderung ist makaber und menschenverachtend. Und sie verkennt auch, wie Kunst eigentlich entsteht. In Ruhe und Reflexion, nicht in Hast und Eile. Eine Idee kann aus einem Moment entstehen, aber um aus einer Idee, Kunst zu schaffen, braucht es Zeit. Kunst ist nicht Tageszeitung, Kunst ist eher Jahrbuch. Schon deshalb wäre es vollkommen vermessen, von Kunst eine tagesaktuelle Kritik der Corona-Pandemie zu erwarten.
Als könnte man das Virus mit Ideologie besiegen
Das grösste Problem an der jetzt formulierten Kritik an KünstlerInnen ist aber etwas anderes. Sie tut so, als wäre die Corona-Krise eine x-beliebige gesellschaftliche Krise zu der man sich so oder so verhalten kann. Zu der man diese oder jene Meinung haben könnte. Ja, als könnte man das Virus mit ideologischen Annäherungen besiegen. Wer so argumentiert, verharrt in alten Denkmustern und verkennt die Dimension dieser Pandemie. Meinungen sind hier keine relevanten Kriterien, es geht um Fakten. Wissenschaftliche Fakten. Mit klassischen Pro-und-Contra-Denken kommt man da nicht weiter.
In dieser Lage von KünstlerInnen zu erwarten, sie sollten sich gegen die Fakten stellen und wider besseren Wissens, einen Protest formulieren, nur um des Protestes willen, ist hanebüchen. Was wäre das auch wert - ein Protest um des Protest willens? Nichts.
Wenn Kritik unglaubwürdig wird
Kritik wird unglaubwürdig und destruktiv, wenn sie reflexhaft geäussert wird. Sie hat keinen Wert, wenn sie nur dazu dient, den Kritisierenden als möglichst harten Hund zu stilisieren und eine angebliche Option des Handelns aufzuzeigen, die es in Wahrheit gar nicht gibt.
Eine solche Kunst wäre wertlos. Sie wäre keine Kunst mehr. Sondern eine Verschwörungserzählung.

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