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von Brigitta Hochuli, 28.10.2016

Das letzte grössere Libelle-Buch

Das letzte grössere Libelle-Buch
Ilse Rau auf dem Titelbild ihrer Erinnerungen "Meine Mara-Jahre" | © Cover Libelle Verlag Lengwil

Im 37. Jahr der Verlegerei ediert die Lengwiler „Libelle" Jugenderinnerungen der Psychotherapeutin Ilse Rau an ihren Fluchtort Brüssel während des 2. Weltkriegs. Sie hat lange in Konstanz gelebt, wo auch Verleger Ekkehard Faude herkommt. Es ist sein letztes grösseres Buch.

Von Brigitta Hochuli

Ihre Erinnerungen hat Ilse Rau (1928) zuerst als Privatdruck verschenkt. Später wurde Ekkehard Faude auf das Manuskript aufmerksam, und es entstand in fruchtbarer Zusammenarbeit der Psychotherapeutin und des Verlegers das Buch „Meine Mara-Jahre - Erinnerungen"*. Ilse Rau schildert darin ihre Jugend als Tochter eines Juden und einer Protestantin in Deutschland, die Flucht 1939 nach Belgien und die entbehrungsvollen Jahre in Brüssel - bis sie mit 20 Jahren den deutschen ehemaligen Soldaten Walter Rau heiratete.


Ilse Benda und Walter Rau vor ihrer Hochzeit in Deutschland 1948. Bild kopiert aus dem Privatarchiv Rau.

 

Auch Ekkehard Faude erinnert sich. „Ich erinnere mich", schrieb er kürzlich auf Facebook, „wie es mir leicht wurde an jenem Freitagnachmittag im März, als auf der Rückfahrt vom Seminar (in Rottweil) neben der Autobahn die rohen Türme des Betonwerks auftauchten und ich da den Entschluss fasste, den Referendardienst endlich abzubrechen und damit auch einen gesicherten Lebensentwurf." Faude gründete 1979 den Faude Verlag, der - später vom thurgauischen Lengwil aus als Libelle Verlag - im gesamten deutschsprachigen Raum ein beachtliches Renommee erlangte.

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„Meine Mara-Jahre" passen in Faudes Verlagsprogramm, das er seit 1991 zusammen mit seiner Frau Elisabeth Tschiemer entwickelte. Ja, sie runden es gewissermassen ab. Trotz unterschiedlichster Autoren wie Manfred Bosch, Arno Borst, Fritz Mühlenweg oder Yasmina Reza und unterschiedlichster Themen von der Didaktik bis hin zum Alkohol, haben die Libelle-Bücher einen gemeinsamen Nenner. Es sei die Stärkung des Einzelnen, seinen eigenen Weg zu finden und die gegenseitige Unterstützung, wenn zwei in Not geraten, sagt Faude. „Das ist auch die Botschaft, die in Ilse Raus Buch so Eindruck macht."

Ilse Rau wuchs in Chemnitz als Tochter des Unternehmers Hugo Benda auf. Ihre Erinnerungen - um Abstand zu gewinnen von der Wucht der „Bedrohung und grössten Fremdbestimmung" in die fiktive Figur der jungen Mara übertragen - beginnen mit einem starken Bild. Das Kind sitzt in einem Kirschbaum, darunter ein „zum Bleichen ausgebreitetes Wäschestück, rot gesprenkelt von den ausgespuckten Kirschkernen". Das Bild sensibilisert. Denn es sind die noch unbeschwerten Jahre vor dem 2. Weltkrieg und dem Blutzoll, den unschuldige Menschen zu entrichten hatten. Mara ist zehn Jahre alt, als die Judenverfolgung beginnt, die Synagogen brennen und sie durch die Strassen irrt. „Tief, ganz tief hat ihre Seele die Bilder und erlebten Gefühle des Grauens verbannt. Im unbewussten Erinnern treiben sie ihr Unwesen weiter. Lebenslang werden sie sich - unerkannt in bizarren Masken und Verkleidungen - in Maras Alltag mischen."

Verständlich, dass die Autorin und Psychotherapeutin Ilse Rau ihre ersten 20 Lebensjahre fiktionalisiert hat, als sie nach 24 Jahren in Konstanz nach Tübingen zurückzog und mit über 80 zu schreiben begann. Sie macht es dadurch auch ihren Leserinnen und Lesern leichter und das Buch trotz aller Zumutungen zu einer spannenden Geschichte.

Diese Geschichte ist, wie Ekkehard Faude es formuliert, „eine bezwingende, nachdenkliche Erzählung vom Verlust eines Kindheitsglücks, von antisemitischer Verfolgung und einer Flucht mit Hilfe von Schleusern, von Einsamkeit und couragiertem Beistand beim Aufwachsen in fremdem Land und in neuer Sprache, vom endlich selbst bestimmten Weg".


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Auf diesem Weg erleben wir mit, wie sich Kind Mara und Mutter Vicky zu Fuss zur belgischen Grenze aufmachen, wie sie in einem Keller auf ihren Schleuser warten, wie Mara in einem Wasserloch fast ertrinkt und schliesslich mutterseelenallein mit Hilfe des Roten Kreuzes zurück nach Berlin gebracht wird. Erst im Spätwinter 1940 finden die beiden in Brüssel zusammen und beginnt die selbstkritische Wahrnehmung der Jugendlichen als Deutsche in der damals noch von einer ungezwungenen Lebensart geprägten Stadt.

Dass nach dieser abenteuerlichen Flucht ein Fortleben im fremden Land habe gelingen können, welche Einsamkeits- und Glückserfahrungen eine Heranwachsende als Flüchtling in fremder Sprache durchstehen könne und wie viel Hilfe sie im Aufnahmeland erfahren habe, das alles entfalte in der heutigen Lektüre eine ungeahnte Aktualität, meint Ekkehard Faude.

In der Tat. Während Maras Mutter sich sprachlich nie assimiliert, wird die Tochter perfekt französischsprachig und durchläuft die Schulen bis zum Abitur. Doch das Leben ist hart. Die beiden leiden Hunger, arbeiten bis zur Erschöpfung, hausen gemeinsam in einer Mansarde und entfremden sich von einander doch immer mehr. Bis Mara zur Erholung in ein Jugendheim kommt, wo sie viel Nächstenliebe erfährt, und bis sie sich in den deutschen Soldaten Walter Rau verliebt, der sie zu neuer Lebenskraft erweckt. Als sie sich - endlich - in Deutschland wiedersehen, ist es der 23. November 1947 und „ein Wunder, nach dem Weltuntergang der letzten Jahre".

Ilse und Walter Rau waren 32 Jahre lang verheiratet. Nach ihrer Trennung verliess Ilse Rau 1980 Tübingen, wo ihre neun Kinder aufgewachsen sind und war in Nürnberg in Praxisgemeinschaft mit Guido Groeger als Psychothearpeutin tätig. 1986 zogen die beiden nach Konstanz, das Ilse Rau erst 2010 verliess, um ihrer Familie nahe zu sein.

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Im 37. Jahr der Verlegerei hat Ekkehard Faude diese Geschichte herausgebracht, die sich dank der Kolumnentitel seiner Frau und Mitverlegerin Elisabeth Tschiemer von Seite zu Seite immer wieder leicht Revue passieren lässt.

Elisabeth Tschiemer und Ekkehard Faude. Bild: Archiv

 

„Meine Mara-Jahre" war das letzte grössere Libelle-Buch, noch stünden zwei schmalere in der Pipeline. Der Verlag werde ja nicht geschlossen, betont Ekkehard Faude. Das Buchlager habe mit über 100 lieferbaren Titeln noch Vorräte für Jahre, die Longseller würden noch einige Zeit lang nachgedruckt. „Doch ich lese nun eben gute Bücher aus anderen Verlagen, und ich geniesse die Faulheit - also das eher Unproduktive wie Aufräumen im Verlagsarchiv und Entsorgen von Papier, das einmal wichtig erschien."

*Ilse Rau, „Meine Mara-Jahre", Libelle Verlag AG, Lengwil 2016, ISBN 978-3-905707-65-6

 

Das Verlegerpaar Faude und Tschiemer

Ekkehard Faude, Jahrgang 1946, ist in Konstanz aufgewachsen. Ein Studium der Evangelischen Theologie in Bethel/Tübingen brach er ab, studierte Literaturwissenschaft und Geschichte in Konstanz zuende und unterrichtete nebenbei am Kreuzlinger Lehrerseminar. 1976 begann er eine Buchhändlerlehre. Drei Jahre später gründete er den eigenen Verlag und wurde auch publizistisch tätig.

 

In den Büchern des Verlagsprogramms stehen auch biographische Essays über Lilly Braumann-Honsell, Walter Matysiak, Fritz Mühlenweg, Nelly Dix und Joseph Albrecht von Ittner. 2004 schrieb Ekkehard Faude die Fussnoten zu Michael Krügers »Literatur & Alkohol«, 2005 erschienen seine biografischen Nachforschungen zu Fritz Mühlenweg in erster Buchform, 2006 wurde die viel beachtete biographische Annäherung an den Maler Hans Sauerbruch publiziert. 2007 gab Faude für den Unionsverlag ein Mühlenweg-Lesebuch heraus. Ab 2009 konzipierte er das Mühlenweg-Museum in Allensbach, das 2012 eröffnete.

 

Elisabeth Tschiemer, Jahrgang 1956, ist in Steckborn aufgewachsen und absolvierte ab 1972 die Ausbildung zur Primarlehrerin am Seminar Kreuzlingen. Nach dem Studium in Zürich (Sport, Deutsch, Englisch, Publizistik) war sie Redaktorin der neu lancierten surf-Zeitschrift und bei Weltwoche und NZZ-Online sowie Corporate Communications-Verantwortliche für das Collegium Helveticum der ETHZ und die Pädagogische Hochschule Thurgau PHTG. Neuerdings unterrichtet sie in Winterthur Deutsch als Zweitsprache.

 

Seit 1991 sind Ekkehard Faude und Elisabeth Tschiemer verheiratet und betreiben gemeinsam in Lengwil den Libelle Verlag. In den 37 Jahren der Verlegerei wurden rund 150 Bücher produziert. Auf zwei Dinge ist Ekkehard Faude besonders stolz: „Dass wir Erfolgsautoren wie Yasmina Reza oder Ulrich Ritzel als Buchautoren überhaupt entdeckt haben, und dass uns die Neuentdeckung des vergessenen Erzählers Fritz Mühlenweg so gelungen ist, dass sich seine Bücher seit nun 25 Jahren mit bisher über 60'000 Exemplaren stetig verkaufen." (pd/ho)

 

Aus dem Archiv von thurgaukultur.ch: Libelle Verlag Lengwil zu Gast in Gottlieben

 

www.libelle.ch

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