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von Bettina Schnerr, 08.11.2020

Die abgenutzte Welt

Die abgenutzte Welt
Der Debütautor Lukas Maisel: „Erstmals das eigene Buch in der Hand zu halten, ist nicht mit einer Geburt vergleichbar. Man hält nicht plötzlich etwas in Händen, was man noch nie gesehen hat. Man kennt schon alles daran. Man versucht sich mit dem Gefühl anzufreunden, dass bald alle das Buch lesen können und ein Urteil darüber fällen können.“ | © Rowohlt Verlag

Mit Boot, per Einbaum und zu Fuss schickt Lukas Maisel seine kleine Hauptpersonenschar durch den Dschungel von Papua-Neuguinea, auf der Suche nach einem mysteriösen Fabelwesen. Maisel macht aus seinem Debütroman eine übersprudelnd fantastische Expedition, die auf fremdem Terrain skurrile, vertraute und kritische Aspekte miteinander verknüpft.

„Ich habe mich gefragt, wie man heute noch einen Abenteuerroman schreiben könnte, und bin zur Ansicht gekommen, dass es eine Art von doppeltem Boden braucht,“ sagt Lukas Maisel und legt sogleich auf den ersten Seiten seines Romans los. Der gebürtige Zürcher erklärt den Hobbyforscher Robert Akeret in einem Vorwort zur realen Figur, durch deren Notizen er sich höchstpersönlich gearbeitet habe. Ein raffinierter Schachzug, der im Prinzip seit Arthur Conan Doyle tadellos funktioniert und die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwischen hilft.

Als partner in crime an dieser Grenze dabei ist dieser Akeret selbst, der sich als kommender Star der Kryptozoologie sehen will. Eine Disziplin, die sich mit Lebewesen befasst, die nur in Legenden und Augenzeugenberichten auftauchen und die bis dato nicht als echte Wissenschaft anerkannt ist. Eine Disziplin, in der sich echte Jemen-Warane und die mythische Nessie aus Schottland die Hand geben. Was Akeret in Papua-Neuguinea finden will, ist der „Orang Petek“, der als Bindeglied zwischen Mensch und Affe gilt. Auf welcher Seite der Grenze könnte Akerets Mission landen?

Unwahrscheinlich, aber glaubhaft

In einem Interview sagte Maisel, das Schreiben sei ein Weg, sich an der Wirklichkeit zu rächen. Konkrete Personen meint er damit allerdings nicht: „Schon die Tatsache, dass ich eine Geschichte schreibe, die nicht der Wirklichkeit entstammt, ist für mich eine Genugtuung,“ beschreibt er seine Motivation. „Ich will und kann die Wirklichkeit nicht abschreiben. Ich will Geschichten schreiben, die unwahrscheinlich, aber dennoch glaubhaft sind.“ Mit seiner Abenteuergeschichte gelingt ihm das auf alle Fälle.

Nicht selten will man zur Suchmaschine eilen, um die Existenz von Forschern, Büchern oder historischen Ereignissen zu verifizieren und die Grenze zur Fiktion zu finden. „Ich kann mir absurde Fakten viel einfacher merken,“ sagt Lukas Maisel. Vieles davon notiert er, wann immer es ihm begegnet und im Buch bringt er bündig passende Elemente unter, die Bristol-Skala, das Lontara oder eine Stadt namens Chandigarh. Der Roman wird ergänzt mit Illustrationen von Rafael Koller, die nach ungewöhnlichen Fundstücken von Maisel selbst angefertigt wurden.

Ein ausschliesslich fröhliches Abenteurerdasein erleben Akeret und seine Mitstreiter, sein Landsmann Blum, der einheimische Jonah und der Indonesier Mansur, allerdings nicht. Der Perspektivwechsel auf Papua-Neuguinea stösst viele Überlegungen darüber an, wie der Mensch mit seiner Umwelt umgeht — und mit Mensch ist absolut vorrangig der Europäer gemeint.

«Der Berg sei, so Blum, den Einheimischen sicherlich wohlbekannt gewesen, ebenso die unentdeckten Tiere, und das zeige einmal mehr, dass diese sogenannten Entdeckungen immer nur aus der Sicht des Europäers welche seien.»

Aus dem Roman «Das Buch der geträumten Inseln» von Lukas Maisel

Wo der Europäer aufkreuzt, hinterlässt er Spuren, unverrückbar, irreparabel, unüberlegt. An ein Beispiel dafür erinnert sich Jonah über seine Grossmutter, die vor über vierzig Jahren erstmals eine Plastikflasche im Meer treibend fand, etwas, das merkwürdigerweise nicht kaputt ging. Es bleibt nicht bei der einen Skurrilität: Über die Jahre türmen sich Eimer, Kinderspielzeug und vieles mehr unter den Palmen, angespült aus fernen Ländern. So viel, dass die Grossmutter eines Tages eine Kathedrale damit zu bauen beginnt, weil sie die Unzerstörbarkeit zunächst für etwas Gutes hält.

Lukas Maisel thematisiert die Völkerschauen, mit denen sich namhafte Zoos einst zweifelhaft viel Zulauf verschafften und erinnert über eine seine Figuren daran, dass der Rassismus der Kolonialzeit nicht überwundern ist: „Man schaut gerne auf die Irrtümer der Vorfahren zurück und glaubt, sie seien dümmer oder unmoralischer gewesen als wir. Aber gäbe es morgen kein Internet, kein Fernsehen mehr, dann würde übermorgen die nächste Völkerschau eröffnet.“ Die Liste lässt sich im Roman mit Überfischung oder sorglosem Event-Tourismus fortsetzen.

Wie experimentierfreudig hier inhaltliche Ebenen zwischen spielerischem Abenteuer, Wissenschaftsgeschichte und kritischen Themen miteinander verwoben werden, überzeugt. Mit jedem Gedanken an das Buch entblättern sich mehr Spuren und Ideen auf der exotischen Leinwand, die sich der Autor als „eine schon abgenutzte Zukunft“ vorstellt: „Ich wollte keinen nostalgischen Kitsch, keine hübsch patinierten Gegenstände. Ich dachte eher an die Ästhetic des used universe, wie sie George Lucas für die Star Wars-Filme entwickelt hatte.“

Reinhören: „Fondue Chienoise“: Eine Geschichte von Lukas Maisel für das Schreckmüpfeli vom SRF

Schwierige Fragen sind die besten

Romane zu schreiben braucht viel Zeit. Lukas Maisel sieht seinen Antrieb in einer zentralen Fragestellung: „Das hält man eigentlich nur durch, wenn es eine Frage gibt, die einen umtreibt, und auf die es keine einfache Antwort gibt. Der Roman ist dann so etwas wie eine Antwort,“ sagt er über seine Arbeitsweise. Sein erstes Manuskript war „Das Buch der geträumten Inseln“ nicht, aber es war das erste, das bei einem Literaturagenten den nötigen Zuspruch fand.

Den weiteren Entstehungsprozess seines ersten Buchs erlebte Maisel als ungewohnt intensiv. „Durch mein Studium am Literaturinstitut Biel kannte ich schon, dass andere meine Texte kritisieren. Aber das geschah natürlich nicht so tief und so detailliert, wie das meine Lektorin erledigte,“ erzählt er. „Es ist teilweise ein wenig kränkend, aber dieses Gefühl ist im Lektorat nicht förderlich. Es sollte immer um die Verbesserung des Textes gehen, niemals um persönliche Befindlichkeiten.“

Lukas Maisel ist nun, soweit es möglich ist, mit seinem Buch auf Lesereise. Vor Auftritten bespricht er sich gerne kurz mit dem Moderator, um Sicherheit zu gewinnen und eine gemeinsame Ebene zu finden, denn wirklich vorbereiten könne man sich nicht, findet er: „Was ich vorlese, kenne ich schon in- und auswendig und an den Entstehungsprozess erinnere ich mich ja“. Derweil ist schon längst ein weiterer Roman fertig und „wenn alles gut geht, erscheint er auch“. So viel verrät Maisel: Es geht um eine Art Anti-Casanova, der seine gescheiterten Versuche zu lieben aufschreibt.

 

«Am Ende dieses Jahrhunderts, meinte Akeret raunend, werde jede einmal erdachte Dystopie wahr geworden sein, weil der Mensch seine Ideen zwanghaft zur Verwirklichung bringen müsse.»

Aus dem Roman «Das Buch der geträumten Inseln» von Lukas Maisel

Das Buch: Lukas Maisel – Das Buch der geträumten Inseln; ISBN 978-3-498-00202-2; 264 Seiten, gebunden; Rowohlt Verlag Hamburg, 2020. Lukas Maisel ist im Dezember zu Gast bei einer Sofalesung in St. Gallen. Ein Porträt über Lukas Maisel könnt ihr hier nachlesen.

Die Lesungen & die Serie


„Debüts: Der erste Roman“ heisst eine Lesereihe von Judith Zwick, die im Laufe des November stattfindet. thurgaukultur.ch ist Kooperationspartner der Reihe. Coronabedingt finden alle Lesungen und Gespräche nun digital statt. Sie sind zu den angegebenen Terminen auf unserer Internetseite zu finden.

 

Die Lesungen:

Donnerstag, 12. November:
Ulrike Almut Sandig „Monster wie wir“.
Ein Briefwechsel und digitales Gespräch zwischen der Autorin und Judith Zwick

Donnerstag, 19. November:
Julia Langkau „Flussgeboren“.
Livestream-Lesung mit Gespräch. Moderation: Michael Lünstroth, Redaktionsleiter thurgaukultur.ch, Live über YouTube- und Facebook-Seite von thurgaukultur.ch

Donnerstag, 26. November:
Thilo Krause „Elbwärts“.
Ein Interview. Weitere Details zu den Lesungen gibt es auch hier:
https://judithzwick.de/debuets/

 


Die Serie:

Zur Lesereihe erscheint bei uns im November, immer sonntags, auch eine Artikelserie rund um das Thema „Debüts“, in der wir weitere lesenswerte Debütromane vorstellen. Alle Beiträge aus der Reihe bündeln wir im Themendossier «Debüts».

 

«Das erste Mal»: Ein Text zur Bedeutung von Debüts von Michael Lünstroth

Sonntag, 8. November:
Die Journalistin Bettina Schnerr bespricht das »Buch der geträumten Inseln« von Lukas Maisel. (Rowohlt Verlag. Hamburg/Berlin 2020)

Sonntag, 15. November:
Die Buchhändlerin Marianne Sax präsentiert »Siebenmeilenstiefel« von Simon Deckert (Rotpunktverlag 2020) und »Drei Leben lang« von Felicitas Korn (Kampa Verlag 2020).

Sonntag, 22. November:
Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Özkan Ezli denkt nach über »Streulicht« von Deniz Ohde (Suhrkamp Verlag. Frankfurt a. M. 2020)

Sonntag, 29. November:
Die Autorin Tabea Steiner schreibt über »Roter Affe« _von Kaśka Bryla (Residenz Verlag. Wien/Salzburg 2020)

 

 

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