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von Bettina Schnerr, 20.02.2023

Dreckiges Erbe

Dreckiges Erbe
Lukas Bärfuss untersucht im Essay „Vaters Kiste“ das zeitgenössische Bild von privaten Eigentum und welche Verpflichtungen sich daraus ergeben – von der einzelnen Familie bis zur Gesellschaft als ganzes. | © Claudia Herzog

Lukas Bärfuss ist einer der wichtigsten Schweizer Gegenwartsautoren. In seinem neuen Buch „Vaters Kiste“ schreibt er über Familie, Herkunft und was wir dieser Welt hinterlassen.  (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Denken wir üblicherweise ans Erben, denken wir an Immobilien, an ein -selbst wenn auch nur kleines- Sparguthaben, der Vorfahren Aktiendepots oder zumindest eine Wohnung mit Dingen, die sich behalten oder verkaufen lassen.

Vielleicht denkt der eine oder andere auch an den sagenhaft reichen John D. Rockefeller, dessen Vermögen bei seinem Tod umgerechnet noch höher war, als das von Jeff Bezos, Bill Gates und Elon Musk zusammen genommen. Erben hat gedanklich immer mit einem gewissen materiellen Segen zu tun, der das Leben der Nachkommen ein Stück weit verbessern könnte.

Das Erbe des verarmten Vaters

Mitunter aber mag die Realität so aussehen wie bei Lukas Bärfuss, der über den Nachlass seines Vaters schreibt: „Das Erbe schlug ich natürlich aus, ich war ja nicht verrückt.“

Der Vater, auf der Strasse lebend während seiner letzten Lebensmonate, hinterliess ausschliesslich Schulden und jene paar Möbel, die der Vater hatte, behielt der Vermieter als Entschädigung für mehrere Monate unbezahlten Mietzins.

Video: Buchpremiere in Zürich

Eine historisch gewachsene Obsession

Die Kiste weckt in Bärfuss unschöne Erinnerungen. „Ich kannte das alles gut, nur zu gut. Als wären diese Briefe nicht an ihn, sondern an mich adressiert, so kam es mir manchmal vor, und ich musste zwei Mal hinschauen, ob mein Vater oder ich selbst der Adressat war.“ Lukas Bärfuss kehrt gedanklich zurück in die Zeit, als er selbst auf der Strasse lebte und Gefahr lief, eine dem Vater vergleichbare „Laufbahn“ einzuschlagen.

Wer nach den einführenden Seiten nun eine biografisch geprägte Erzählung erwartet, erlebt in „Vaters Kiste“ eine Kehrtwende. «Ich kann gar nicht sagen, wo die Literatur endet, und die Politik beginnt», hat Lukas Bärfuss einmal in einer Diskussionsrunde festgestellt.

Eine Reise zwischen Philosophie, Geschichte und Politik

Diesem Motto folgt auch der Essay. Bärfuss nutzt die eigene Herkunft lediglich als Ausgangspunkt für seine Gedanken über das Eigentum und das Erben und geht auf eine Reise zwischen Philosophie, Geschichte und Politik.

Das geschieht zuerst, indem er tausende Jahre zurückgeht. Die „Obsession“, sich über seine Herkunft zu definieren oder ungefragt darüber identifiziert zu werden, verfolgt er historisch bis zu den Sumerern und die Bibel.

Aus der Herkunftsdefinition wurden nun auch Erbrechte abgeleitet und was auch immer im Lauf der Zeit in dieser Hinsicht entwickelt wurde, es hing mit dem Aufbau und dem bedingungslosen Erhalt von Hierarchien zusammen. Die kleinste Einheit, die sich in einer Gesellschaft bilden lässt, war und ist die „Familie“.

Video: Während des Lockdowns erzählt Lukas Bärfuss aus seinem Schaffen im Zürcher Homeoffice und seine ersten Ideen zu „Vaters Kiste“ 

Eine Abrechnung mit dem Konstrukt „Familie“

Diese Familie, das ist eine Einteilung, die dem gebürtigen Thuner nicht behagt und wahrscheinlich noch nie behagt hat. Er hat früh die Bekanntschaft gemacht von Menschen, die Fremdplatzierung erleben mussten. Er weiss, welchen immensen Schaden Kinder bei den staatlich zugeteilten „ordentlichen Familien“ erlebt haben und wie fehleranfällig diese Kategorie ist.

Die „Familie“ ist eine offenbar aus Gewohnheit bürokratisch gut handhabbare Verwaltungseinheit, an der man aus Angst vor der Komplexität, die menschlichem Leben eigen ist, lieber nichts ändert. Die Konsequenzen dieser Uniformität reklamiert Bärfuss hier weder zum ersten – wie in „Das Unglück der Kleinfamilie“— und sicher nicht zum letzten Mal.

 

«Wenn ich höre, dass sich die Menschrechte auf die Familie bezogen und die Familie die natürliche Kernzelle der Gesellschaft sei, dann war klar, warum es eben dieser Gesellschaft so dreckig ging.»

Lukas Bärfuss (Bild: Claudia Herzog)

In der Schweiz ist aktuell jeder zweite Vermögensfranken ein Erbstück. Das Erbe, eben innerhalb einer Familie weitergegeben, kann also eine Chance sein. Nur wer nichts hat, bleibt auf das angewiesen, was seine eigene Arbeit an Ertrag hergibt. Erbschaften sorgten so für einen ökonomischen Graben mitten in der Gesellschaft und werden zum sozialen Sprengstoff, analysiert Bärfuss: „Ungerechtigkeit ist ein Sicherheitsproblem.“

Wie ererbter Wohlstand sozialen Sprengstoff birgt

Jetzt könnte man den Text als Wutrede abkanzeln wollen von einem, der nichts hat und anderen einen Besitz neidet, für den sie ausser erben nicht einmal etwas tun mussten. Aber das wäre ein Fehlschluss, zumal an dieser Stelle zu früh getroffen.

Bärfuss schreibt zwar von einem Widerwilen gegen die Herkunft, aber es ist eben nicht seine eigene, sondern die gegenüber jener Obsession, sich permanent über die Vorfahren zu definieren statt über eine eigene Leistung.

Was Charles Darwin mit dem Erben zu tun hat

Und hier spielen dem bestehenden Erbrecht, kaum hundert Jahre alt, historische Missverständnisse in die Hände, schreibt Bärfuss in seinem Essay. Er unternimmt eine Gedankenschleife zu Charles Darwin und analysiert, warum dessen Ideen von Vererbung zwar nicht in der Sache falsch sein müssen, aus heutiger Sicht doch zumindest falsch erzählt.

Er schildert Darwin als einen Mann, „gefangen in in einer Erzählform“. Um verstanden zu werden wählte er bei der Darlegung seiner Erkenntnisse eben nur jene sprachlichen Bilder, die der Zeit entsprachen. Kooperation beispielsweise komme bei ihm nicht vor, weil sie nicht in die damalige Haltung passte. Eine Lücke mit Tragweite, denn sie hinterlasse ihre Spuren fälschlicherweise bis heute – weil man Inhalt und Spache nicht voneinander trenne.

Video: Lukas Bärfuss in „Sternstunde Philosophie“ 

Kein Eigentum ohne Verantwortung

Interessant wird das Buch vor allem dann, wenn sich Bärfuss um die Parallelen zwischen Familie und Gesellschaft kümmert. Das Erbe, welches er einst ausgeschlagen hatte, bestand aus zahllosen Schulden. Solche vererbt eine Gesellschaft leider auch, und zwar nicht ausschlagbar: Müll und Umweltschäden.

Während die Schulden seines Vaters von der Vergangenheit erzählten, hinterlasse die Gesellschaft eine schlimmere Art von Schulden, argumentiert er: „Nur scheint es so, dass wir unseren Nachgeborenen nicht nur Ruinen und den Müll hinterlassen, sondern aus unserer Gegenwart in ihre Zukunft greifen und ihnen dort noch die Grundlagen nehmen.“

 

„Überhaupt bemänteln wir die Wirklichkeit gerne mit hübschen Begriffen, wie etwa jenem des Anthropozäns, als habe der Mensch als solcher dieses Elend angerichtet, und dabei sind es doch nur fünf oder sechs Generationen, die für diese Situation verantwortlich sind.“

Lukas Bärfuss

Jeglicher Besitz geht mit grosser Verantwortung einher und diese Verantwortung reicht jenseits aller familiärer Bindungen. Umso mehr bedeutet dem Autor eine Revision des Eigentumsdenkens und der Erbmuster.

Ein Hinterfragen ist überfällig

Bärfuss hofft ganz sicher darauf, dass sich Änderungen ergeben, denn er versteht die momentane Weltordnung als Ergebnis menschlicher Entscheidungen und veralteter Denkmuster und das ist nun einmal etwas, was sich verändern lässt: „Es gibt keine bessere Erkenntnis, wenn wir denn daraus lernen, soziale Entscheidungen zu treffen.“ Die aktuelle Art zu Denken, sei reine Gewohnheit, kein Naturgesetz.

Der vererbbare Wohlstand, um den es in „Vaters Kiste“ geht, ist es übrigens auch nicht. Was ist vom Reichtum des bereits erwähnten John D. Rockefeller übrig geblieben? Kurz: kaum etwas. Bisher hat kein grösseres Familienvermögen mehrere Generationen überdauert. Ein Bruttoinlandsprodukt, wie wir es kennen, oder die Möglichkeit, Geld zur Vermehrung in einem Geldmarkt zu investieren, gibt es erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit Beginn der Industrialisierung. So gesehen ist das „Geldwachstum“ in der Geschichte der Menschheit eher eine Anomalie als eine Selbstverständlichkeit.

Die grosse Frage aber ist: Wird man sich der Vergänglichkeit von Vermögen bewusst, fällt das Hinterfragen von bestehenden Eigentumsbegriffen dann leichter?

Video: Lukas Bärfuss in „Sternstunde Philosophie“ 

 

Die Lesung & das Buch

Am Donnerstag, 23. Februar 2023, stellt Lukas Bärfuss sein aktuelles Buch „Vaters Kiste“ im Literaturhaus Gottlieben vor. Es moderiert Gallus Frei-Tomic.

Ort: Literaturhaus Gottlieben
Zeit: 19.30 Uhr 

 

Das Buch:

Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben

ISBN 978-3-498-00341-8

Rowohlt, Hamburg

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