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von Anabel Roque Rodríguez, 27.05.2021

Die Erforschung des sozialen Raums

Die Erforschung des sozialen Raums
Bekommt einen der Kultur-Förderbeiträge des Kantons Thurgau 2021: Die Fotografin und Künstlerin Susanne Hefti. | © Melk Imboden

Räume sind nicht nur geografische Orte, sondern auch soziale Stationen. Die Fotografin Susanne Hefti untersucht die gesellschaftlichen Mechanismen dahinter. Dafür erhält sie jetzt einen der Kultur-Förderbeiträge des Kantons Thurgau. (Lesedauer: 5 Minuten)

Susanne Hefti hat zwei Herzen in ihrer Brust: Das eine gehört der Fotografie und das andere der Forschung, neben der Arbeit als Künstlerin promoviert sie derzeit auch am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) an der ETH Zürich.

Wort und Bild kommen bei ihr immer wieder interessant zusammen und geben Einblicke in ihr Schaffen, das sich mit den Auswirkungen der jüngsten populistischen und nationalistischen Machtverschiebungen auf die Architektur in Europa beschäftigt. Sie gehört zu den diesjährigen GewinnerInnen der kantonalen Kultur-Förderbeiträge und gewährt in einem gemeinsamen Gespräch Einblicke in Politik, fotografisches Erzählen und die Verantwortung von Dokumentation.

«Die Schweiz gilt als Avantgarde des europäischen Rechtspopulismus. Mich beschäftigt, ob dieser Rechtspopulismus auch Auswirkungen darauf hat, wie die Schweiz als sozialer Raum heute aussieht.»

Susanne Hefti, Künstlerin

Eine der ersten grösseren Serien der 1984 in Münsterlingen geborenen Susanne Hefti ist «Peach», die auch 2014 als Buch erschien und für das Prädikat «Deutscher Fotobuchpreis» nominiert wurde. Die Serie trägt bereits die künstlerische Handschrift der Fotografin und zeigt, wie sehr sie sich für die Entwicklung einer fotografischen Bildsprache interessiert: Form, Struktur und Ordnung sowie Licht und Schatten.

Ihre Fotografien bestechen dadurch, dass die Motive so simpel sind, dass sie gerade durch die Reduzierung eine eigene Bildsprache erzeugen. Jedes Motiv ist wie eine Meditation auf das Alltägliche und erinnert an den Zauber des Innehaltens und Beobachtens.

Beim Durchsehen muss ich immer wieder an die Gedichte der amerikanischen Poetin und Autorin Mary Oliver denken, insbesondere an ihre Lebensanweisung: “Instructions for living a life. Pay attention. Be astonished. Tell about it.” (Anweisungen um zu Leben: Sei aufmerksam. Gerate in Erstaunen. Erzähl davon.) Eine Aufforderung, der Susanne Hefti in ihren Serien nachkommt und die trotz der vermeintlichen Nüchternheit in den späteren Architekturfotografien immer einen erzählerischen Kern in sich birgt. Gerade in den aktuelleren Arbeiten geht es weniger darum wie sie fotografiert, als darum welchen Wandel sie in den Motiven erzählt.

Aus der Serie «Peach» (2014). Bild: Susanne Hefti

 

«In meinen Arbeiten ist es eigentlich immer darum gegangen, erst einmal möglichst unvoreingenommen Räume zu erkunden.»

Susanne Hefti, Künstlerin

«In meinen Arbeiten ist es eigentlich immer darum gegangen, erst einmal möglichst unvoreingenommen Räume zu erkunden. Die Kamera ist ein Mittel zum Zweck oder ein Werkzeug, um mich durch diese Orte zu bewegen und über sie zu berichten. Am Ende geht es aber nicht nur um die formalen Qualitäten des Raums. Mit dieser Methode des Begehens und Dokumentierens möchte ich insbesondere auch hinter die Fassaden blicken, auf die politischen Mechanismen, auf den sozialen Raum. Was sagt dieser Raum über unser Miteinander?»

Susanne Heftis Fotografien und ihre Gedanken dazu gewinnen eine neue Aktualität in Zeiten, in denen wir über Repräsentation von Denkmälern im öffentlichen Raum diskutieren. Dokumentation arbeitet unter bestimmten Gesetzmässigkeiten, die von politischen Überzeugungen (was wird warum dokumentiert?) geprägt ist. Dokumentation ist selten so nüchtern, wie sie nach Aussen hin scheint und unterliegt durchaus einer Verantwortung des Dokumentators, denn jede Dokumentation ist auch ein Kommentar.

«Mir ist es wichtig, mein Schaffen immer wieder zu hinterfragen. Genau zu überlegen, wie erzählt wird und wem wie das ‘Wort’ erteilt wird, wie ich etwas darstelle, ob ich es überhaupt darstellen soll.»

Susanne Hefti, Fotografin

Dieser Verpflichtung ist sich Susanne Hefti selbst auch bewusst: «Ich stelle mir immer die Frage nach der Legitimation, wenn ich an einem Ort arbeite. Was will ich über den Ort aussagen und steht es mir überhaupt zu, eine Aussage zu treffen? Diese Frage ist in den letzten Jahren immer wichtiger für mich geworden. Bei einigen Arbeiten, zum Beispiel bei den Recherchen im Kosovo, habe ich diese Fragen direkt im Werk adressiert. Ich weiss trotzdem nicht, ob ich die Recherche vor Ort und das Werk selbst heute wieder so realisieren würde. Mir ist es wichtig, mein Schaffen immer wieder zu hinterfragen, einige Dinge geschehen implizit. Es ist mir wichtig immer zu überlegen, wie erzählt wird und wem wie das ‘Wort’ erteilt wird, wie ich etwas darstelle, ob ich es überhaupt darstellen soll. Die Künstlerin Martha Rosler ist dabei ein inspirierendes Vorbild für mich.»

Aus dem Projekt «Library». Bild: Susanne Hefti

Von Systemen und Brüchen

Die Fotografien der Künstlerin erzählen gerne von Brüchen und Wandel in Systemen, dazu gehören intensive Recherchen, um die Regeln und Auffälligkeiten in diesen bestehenden Strukturen zu verstehen und Abweichungen zu erkennen.

Zu sehen ist diese Faszination für Strukturen und ihr Hinterfragen unter anderem in dem Projekt «Library». Hintergrund dieses Projektes ist, dass 2005 Studierende der Städelschule Frankfurt in Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Kunstverein dem Kosovo rund 10‘000 Kunstbücher schenkten. Diese „The Contemporary Arts Library“ genannte Sammlung befindet sich heute in der Nationalbibliothek des Kosovo.

Laut der damaligen Projektbeschreibung verfolgte das Projekt das Ziel, den Kanon der Kunst zu zeigen, also einen repräsentativen Überblick der internationalen Kunstszene zu geben. «Die meisten der Bücher sind allerdings in deutscher Sprache und repräsentieren eher einen deutschen, als einen internationalen Kanon. Was also als gut gemeinte Geste begann, ist bei näherem Hinsehen eher paternalistisch und kein wirklicher Akt der Wissensvermittlung, sondern dient einer rein kulturellen Symbolik des ‘Wissensgebens’.»

Ein Beispiel ihrer Arbeit: Das Projekt Skopje Walkie Talkie

Für das langjährige Rechercheprojekt Skopje Walkie Talkie (2014-2019) hat die Künstlerin viel Zeit vor Ort verbracht. «Ich war das erste Mal 2012 für ein anderes Projekt in der Stadt und fand es sehr spannend, wie zwei repräsentative städtebauliche Projekte aufeinandertreffen. Eines aus den 1960ern nach dem Wiederaufbau der Stadt nach einem schweren Erdbeben und eins ab 2008, für welches die nationalistische Regierung beschlossen hat den Stadtkern umzubauen. Zwischen 2008 und 2018 entstanden hier zahlreiche neue Gebäude und Monumente für mehr als 680 Millionen Euro. Das architektonische Wissen vom Wiederaufbau der Stadt nach einem gravierenden Erdbeben in den 60er- und 70er-Jahren wurde im gleichen Zug verschleiert, vernachlässigt oder gar zerstört. Die Stadt veränderte sich hin zu einer extravaganten Identität innerhalb populistischer und nationalistischer Machtstrukturen.»

Das Buch zum Projekt «Skopje Walkie Talkie». Bild: Susanne Hefti

 

Es scheint als würden die Fotografien der Künstlerin sich so stark für populistische und nationalistische Architekturen interessieren, weil diese stets auf ähnlichen Regeln beruhen: Macht, Unterdrückung und Legitimation. Heftis Werke demontieren diese Gesetzmässigkeiten und übersetzen Symbole, in Form von Architektur, in menschliche Geschichten und ihre Handlungsräume. Es ergibt sich dadurch ein spannender Dialog zwischen dem System Kunst, ihrer eigenen politischen Haltung und dem Raum vor Ort.

Wie man politische Verschiebung an Architektur erkennen kann

Auch wenn die Menschen bei Susanne Hefti nicht als Motiv auftauchen, gehen ihre Fotografien immer vom Menschen aus. Im Zentrum steht nicht das Abbilden von Politik und Symbolen der Macht, sondern wie Räume im Alltäglichen gestaltet werden und welche Geschichten diese Räume erzählen.

Architektur ist bei ihr ein Raum, in dem zwischenmenschliche Beziehungen verhandelt werden. «Mich interessieren die Momente, wo Menschen mit ihren Mikronarrationen – den Zweck – einer repräsentativen Architektur brechen». Dazu ist die Künstlerin selbst länger vor Ort und versucht, Benutzerin dieser Orte zu werden, um in diese Geschichten einzutauchen. Viele ihrer fotografischen Serien werden von essayistischen Texten begleitet und erlauben so einen weiteren Blick auf die Geschichten.

«Wenn man fotografiert, konstruiert man das Motiv mit.»

Susanne Hefti, Künstlerin

«Dokumentarfotografie verstehe ich in einem erweiterten Kontext, daran hängt eine ganze Historie; in den USA war sie zum Beispiel sehr stark sozial engagiert und von den Reformbestrebungen der Moderne geprägt. Davon hat sie sich später losgelöst, die sozial engagierte Fotografie geriet in Kritik. Zwischen Kommerzialisierung und sozialer Engagiertheit haben sich neue Richtungen etabliert. Ich sehe mich in der Tradition, dass ich mich politisch für die Orte interessiere, aber versuche einen distanzierten Blick auf die Dinge zu bewahren: Das was ich fotografiere, soll sich als Sujet nicht unterwerfen müssen, vielleicht tauchen deswegen auch keine Menschen auf meinen Fotografien auf. Wenn man fotografiert, konstruiert man das Motiv mit. Bei Architekturfotografie ist das für mich weniger gewaltvoll. Architektur verstehe ich allerdings im Kontext sozialer Zusammenhänge. Diese sozialen Zusammenhänge – Körper im Raum und ihre Bewegungen, Politik, Geschichte, Wissensvermittlung und Narrationen, auch Gebäude – schaffen ein vielfältiges Geflecht, eben einen sozialen Raum. Wie und warum dieser sich wandelt und entwickelt, das interessiert mich.»

Was sagt Architektur über unser Miteinander? Eine der Fragen, die das Werk von Susanne Hefti prägen. Hier aus der Serie «Regressive Architecture» Bild: Susanne Hefti

Was die Künstlerin mit dem Werkbeitrag plant

Im Augenblick arbeitet die Künstlerin an einem Forschungsvorhaben mit Schwerpunkt auf die Schweiz und wie die Verflechtung von Rechtspopulismus und Architektur seit den 1960ern. «Die Schweiz ist, wenn ich den Wissenschaftler Damir Skenderovic zitiere, die Avantgarde des europäischen Rechtspopulismus. Mich beschäftigt, ob dieser Rechtspopulismus auch Auswirkungen darauf hat, wie die Schweiz als sozialer Raum heute aussieht.»

Den Förderbeitrag (dotiert mit 25'000 Franken) wird sie für die Recherche und die fotografische Arbeit in dem Rahmen nutzen. «Es ist auch eine Untersuchung, wie sich Bilder verändern, wenn sie Teil von Forschung sind. Ich möchte ausserdem versuchen die Beziehung von Text und Bild in meinem Werk neu zu denken.» Es scheint als würde Susanne Hefti bei diesem Vorhaben selbst die Architektur eines Archivs aufbauen, um darin die Beziehungen ihrer Fotografie zu verhandeln.

 

Die Kulturförderbeiträge

Einmal im Jahr vergibt der Kanton Thurgau seine Kultur-Förderbeiträge an KünstlerInnen, die mit einem überzeugenden Vorhaben den nächsten Schritt ihrer Karriere gehen wollen. In diesem Jahr werden drei Frauen und drei Männer ausgezeichnet aus den Sparten Bildende Kunst, Theater und Musik. Der Preis ist mit jeweils 25'000 Franken dotiert. Die Preisverleihung findet digital statt - am Donnerstag, 3. Juni, 19 Uhr. Wer dabei sein will: Alle Informationen zur Anmeldung gibt es hier.

 

Die Preisträger sind: Jasmin Albash (Musikerin), Fabian Alder (Regisseur), Claudia Bühler (bildende Künstlerin), Susanne Hefti (bildende Künstlerin), Daniel V. Keller (bildender Künstler) und Pablo Walser (bildender Künstler). Fabian Alder (hatte zuletzt 2019 mit der Theaterwerkstatt Gleis 5 «Der Held der westlichen Welt» inszeniert) und Daniel V. Keller (hat die 18. Ausgabe der Facetten-Reihe der Kulturstiftung gestaltet) erhalten den Förderbeitrag nach 2013 (Fabian Alder) bzw. 2016 (Daniel V. Keller) bereits zum zweiten Mal.

 

Die Serie: In einer Porträtserie stellen wir alle PreisträgerInnen vor. Alle Teile der Serie werden in unserem Dossier zu den Förderbeiträgen gebündelt. Dort finden sich auch Porträts zu früheren PreisträgerInnen.

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